Wenn sich Harnoncourt selbst überholt
Der Operndirigent Nikolaus Harnoncourt
Am 6. Dezember wird Nikolaus Harnoncourt 80. Oper dirigiert er seit 40 Jahren: Theatralisch, mit Widerstandsgeist und interpretatorischer Phantasie. Nur drei Opernkomponisten hätten, so Harnoncourt, die Gattung Oper in ihrer Komplexität erfüllt.
8. April 2017, 21:58
Wir wissen nicht mehr, wie das war, als Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal die "Zauberflöten"-Ouvertüre explodieren ließ. Es war im Salzburger Festspielhaus, bei der Mozartwoche, und es war jedenfalls ein Schock: so, als würden einem die Fetzen der Musik um die Ohren fliegen, wirkte es damals. Wir wissen es nicht mehr, weil unsere Ohren heute, mittlerweile, nicht mehr an Böhm, Karajan, Sawallisch, Keilberth, Fricsay gewöhnt sind, sondern an Harnoncourt und alles, was er ausgelöst hat.
Hat "es" nicht so zu sein, wie er es macht, im Klanglichen, im Musikalisch-Rhethorischen? Dabei wird es am spannendsten, wenn sich Nikolaus Harnoncourt selbst überholt. Ob er sich Monteverdi oder Mozart vornahm (und vornimmt), Purcell oder Beethoven, Händel oder Haydn, Rameau oder Schubert: Immer ist es Attacke gegen das Bewährte, Bequeme und Alltägliche, gegen das hundert Mal "so und nicht anders" Getane und Gehörte, aber auch gegen die eigenen Prinzipien von vorgestern.
Harnoncourts erster Monteverdi-Opernzyklus
Wer historische "historische Aufführungspraxis" anhand der Anfänge der Gattung Oper studieren will, hat den in Wien, im Casino Zögernitz, im Palais Rasumowsky, rund um 1970 aufgenommenen ersten Montverdi-Zyklus als Lehrbeispiel, den Beginn von Nikolaus Harnoncourts Operndirigieren und zugleich die ersten Schritte seines Concentus Musicus Wien als Opernensemble. Viel Tastendes, auch instrumentale Unsicherheiten finden sich dort, Sänger, die frisch und wenig "eingehört" an dieses Repertoire herangehen.
Heute, nach etlichen Bühnenproduktionen, geht Harnoncourt mit Monteverdi ganz anders um: "L'incoronazione di Poppea" im riesigen Salzburger Festspielhaus überraschte unter seiner Leitung durch un-puristische Klangopulenz, und in der Züricher Oper besetzte er den betont maskulin klingenden Tenor Jonas Kaufmann in der Kastraten-Partie des Nerone - "es geht ums Verhältnis zwischen Mann und Frau, da kann ich keine als Mann verkleidete Frau und keinen Falsettisten brauchen!"
Revolutionen - aber nicht "für die Ewigkeit"
Bei einer Prawy-Matinee, etwa 1990: Um zu zeigen, wie kurios man seinerzeit Mozart gesungen hat, um Harnoncourt zum Lob seiner eigenen Interpretation zu verleiten, spielt Marcel Prawy eine Trichteraufnahme der Königin-der-Nacht-Arie aus der "Zauberflöte" vor. Harnoncourt ist, völlig gegen Prawys Programm, fasziniert, im Gegensatz zu den im Publikum über die alte Aufnahme Lachenden, und sagt trocken den Satz: "In fünfzig Jahren wird man über unsere Aufnahmen genauso lachen."
Sich selbst, das mit Überzeugung Gesagte und Getane immer wieder in Frage zu stellen, und das im achten Lebensjahrzehnt, das ist eine Gabe, die wenige besitzen. Welcher andere Dirigent tritt zu seinem Tun derart in Distanz? Erinnern Sie sich an den Salzburger "Figaro" im Mozart-Jahr 2006, den mit den Wiener Philharmonikern, mit Anna Netrebko und mit Christine Schäfer? Vielleicht haben auch Sie sich an Harnoncourts teilweise extem langsamen Tempi gerieben - und den Abend dennoch unvergleichlich plastischer in Erinnerung behalten als x behend-spritzige "Figaros".
Peitschende Janitscharenmusik
Wieviel Tragödie in "Cosi fan tutte" steckt, zeigte Harnoncourt an der Wiener Staatsoper, kurz bevor er dem Haus den Rücken kehrte. Seine Züricher "Idomeneo"-Kompletteinspielung plus Appendix - editorische Großtat! - holte ein statuarisches Frühwerk ein für allemal in die Sturm-und-Drang-Ära. Wer gehört hat, wie Harnoncourt in der "Entführung aus dem Serail" die Janitscharenmusik peitschen lässt, wird "normale" Aufführungen als matt empfinden - und so weiter. Und im Gegensatz zu Kollegen wie Gardiner und Malgoire, die mit ihren Originalklangensembles immer gerade die Mozart-Opern neu beleuchteten, die mit Garantie "ziehen", arbeitete sich Nikolaus Harnoncourt auch durchs Frühwerk zwischen "Mitridate" und "Lucio Silla".
Repertoire bis Gershwin und Strawinsky
Nur drei Opernkomponisten in etwas über 400 Jahren hätten - so Harnoncourt - die Gattung Oper in ihrer Komplexität erfüllt: Monteverdi - Mozart - Verdi! Nur "Aida" hat sich Nikolaus Harnoncourt von den Verdi-Opern vorgenommen, mit höchster Genauigkeit und eigens nachgebauten "Aida"-Trompeten, die wie Messer in den Triumphmarsch schneiden. Um Wagner macht er einen Bogen, obwohl er im Theater an der Wien bei Franz Schuberts "Alfonso und Estrella" derartige Kürzungen anbrachte, dass aus der italienischen Oper eines Wiener Komponisten eine deutsche Wagner-Vorläufer-Oper wurde.
"Il mondo della luna" im Videostream
Kein Dirigent hat regelmäßiger - nicht bloß im "Haydn-Jahr" 2009! - Opern von Joseph Haydn aufs Programm gesetzt: "Amida" mit Cecilia Bartoli - schlicht atemberaubend. Die jüngste Premiere, Haydns "Il mondo della luna", findet am Abend vor Harnoncourts Geburtstag im Theater an der Wien statt - und wird in ORF2 übertragen und von oe1.ORF.at im Videostream live zeitversetzt gezeigt.
"Carmen", "The Rake's Progress" und "Porgy and Bess" markieren die auffallendsten Opernrepertoire-"Ausritte" von Harnoncourt. Schade, dass er die geplante "Lulu" in Salzburg 2010 abgeben musste.
Moral und Aufrüttelung
So wie beim Musikvereins-Zyklus des Concentus Musicus die Oper, das Weltliche, zwar seinen Platz hat, aber geistliche Musik das A und O ist, der Bereich, von dem Harnoncourt ausgeht und zu dem er immer wieder zurückkehrt, so wächst auch in der Oper Harnoncourts musikalische Interpretation aus der Glaubensüberzeugung.
Und so, wie einer, der in widriger Umgebung glaubt, leicht eifernd werden kann, kannte auch der von der Stichhaltigkeit seiner Einsichten überzeugte Interpret Nikolaus Harnoncourt eifernde Phasen. Die Geschichten, die Harnoncourt in Tönen erzählt, haben stets Moral. "Muss es denn immer anders klingen bei Nikolaus Harnoncourt?" Ja, bitte, immer wieder, als Maßstab oder zur Aufrüttelung für alle anderen.
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Haydn-Oper mit Harnoncourt im ORF
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Hör-Tipps
Apropos Oper, Donnerstag, 03. Dezember 2009, 15:06 Uhr
Apropos Klassik, Samstag, 5. Dezember 2009, 15:06 Uhr
Joseph Haydn, "L'infedeltà delusa", Samstag, 5. Dezember 2009, 19:30 Uhr
Matinee, Sonntag, 6. Dezember 2009, 11:03 Uhr
Aus dem Konzertsaal, Monteverdis "L'Orfeo", Sonntag, 6. Dezember 2009, 19:30 Uhr
Apropos Klassik, Samstag, 12. Dezember 2009, 15:06 Uhr,
Matinee, Bach: Weihnachtsoratorium, Freitag, 25. Dezember 2009, 11:03 Uhr
Purcells "The Fairy Queen", Dienstag, 29. Dezember 2009, 19:30 Uhr
CD-Tipp
Claudio Monteverdi, "L'Orfeo", Liverecording Wiener Festwochen 1954, erste Aufnahme auf Originalinstrumenten, ORF Edition Alte Musik, limitierte Auflage, Veröffentlichungstermin: 6. Dezember 2009
TV-Tipp
Joseph Haydn, "Il mondo della luna", aus dem Theater an der Wien, Samstag, 5. Dezember 2009, 22:00 Uhr, ORF 2
Web-Tipp
Joseph Haydn, "Il mondo della luna", Samstag, 5. Dezember 2009, 22:00 Uhr, Videostream in oe1.ORF.at
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