Mit Märchen wachsen

Ach wie gut, dass niemand weiß...

Mit Märchen können Kinder ihre Ängste bewältigen. Besser noch als moderne Kinderliteratur nimmt das Märchen die existenziellen Ängste ernst, meinte Bruno Bettelheim, der mit seinem Buch "Kinder brauchen Märchen" eine Renaissance des Genres einleitete.

Das Bild der Frau, das die Märchen zeichnen, sei anstößig und lächerlich: brave Hausmutter oder überflüssig gewordene Alte, also Hexe, und über das Schicksal eines Mädchens entscheide fast ausschließlich ihr Aussehen. Anfang der 1970er Jahre konnte man in der progressiven Zeitschrift "Eltern" lesen, dass früher Kinder ausgesetzt wurden, wenn ihre Eltern sie nicht ernähren konnten. Durch Märchen wie "Hänsel und Gretel" sollten Kinder auf diese Möglichkeit vorbereitet werden.

Abgelebte historische Muster aus vorindustriellen Zeiten würden die Grimmschen Märchen widerspiegeln, "gesellschaftliche Strukturen, die wir überwunden haben oder ablehnen". So drückte sich 1972 der Verleger Hans Joachim Gelberg aus, als er eine Neufassung der Grimmschen Märchen des Jugendbuchautors Janosch herausbrachte. Generationen lang, so der Verleger weiter, seien Kinder mit einer Überdosis Grimm gefüttert und so zu gottergebener Unterordnung erzogen worden.

Die Renaissance des Märchens

Die Trendwende in der Märchenrezeption leitete 1976 das Buch "Kinder brauchen Märchen" des in die USA emigrierten österreichischen Psychoanalytikers Bruno Bettelheim ein. Mit diesem Buch wurden die in die pädagogische Mottenkiste verbannten Märchen erlöst. Nun durften sie auch von fortschrittlich gesinnten Pädagogen wieder zur Hand genommen werden.

In der Einleitung zu seinem programmatischen Buch spricht Bruno Bettelheim zunächst gar nicht vom Märchen, sondern von den "psychologischen Problemen des Heranwachsens" und den ihnen entsprechenden Aufgaben der Erziehung:

Das Kind braucht eine moralische Erziehung, die ihm unterschwellig die Vorteile eines moralischen Verhaltens nahebringt und deshalb sinnvoll erscheint. Diesen Sinn findet das Kind im Märchen.

Eine neue Sicht der Märchen

Der Freud-Schüler Bruno Bettelheim begründete eine neue Sicht der Märchen, die er als Spiegelungen des Unbewussten deutete. Bei Bettelheim erfährt man, dass Hänsels Knöchel eigentlich einen Penis vortäuschen soll, was es mit Spindeln und Spiegeln, Lebkuchenhäuschen und Brunnen auf sich hat, sowie was dunkle Wolfsmägen bedeuten.

Rotkäppchen hat durch Bettelheim quasi seine Unschuld verloren, stehe es doch für die erste sexuelle Bewährungsprobe eines Mädchens. Dem Lüstling, der sie anzieht und abstößt zugleich, müsse sie standhalten. Liebe kann einen verschlingen, der Wolf auch.

Die Sprache der Symbole

Welches Kind aber ist so blöd, einen riesigen grauen, höchstwahrscheinlich durchaus nicht unstreng riechenden Kerl von Wolf mit der eigenen Großmutter zu verwechseln? Weil Märchen in Symbolen sprechen, einer Sprache, die Kinder gut verstehen, meint Linde Knoch, Märchenerzählerin und Vizepräsidentin der Europäischen Märchengesellschaft.

In "Hänsel und Gretel" gehe es demnach um die Ablösung von den Eltern und nicht um ein realistisches Ausgesetztwerden im Wald. Ausgesetzt zu werden erlebt jedes Kind einmal, meint Linde Knoch: Wenn der Vater ein Versprechen nicht hält oder die Mutter ein Verbot ausspricht. Die Stiefmutter ist demnach die harte, verbietende Seite der Mutter, die Hexe eine Steigerung davon.

Am Ende aber bewähren sich in "Hänsel und Gretel" die Kinder, triumphieren sie über die Hexe und kehren zum Vater zurück. Für Linde Knoch sind Märchen Zuversichtsgeschichten. Des Weiteren gute Unterhaltung, denn man bekommt von ihnen das, was man gerade benötigt: Anstöße und Anregungen oder Beruhigung und Entspannung. Und schließlich sind Märchen Angstbewältigungsgeschichten. Sie bieten eine ungefährliche Art, sich den eigenen Ängsten auszusetzen. Angstlust zu erleben, wie das die Psychologen nennen, das brauchen Kinder.

Märchen nehmen Ängste ernst

Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim vertrat die Auffassung, dass die tiefen inneren Konflikte, die aus unseren primitiven Trieben und unseren heftigen Emotionen entstehen, in den meisten modernen Kinderbüchern verschwiegen werden, sodass die Kinder dort keine Hilfe zu ihrer Bewältigung erhalten.

Das Märchen dagegen nimmt diese existenziellen Ängste ernst und spricht sie unmittelbar aus. Das Märchen setzt in einem viel tieferen Sinn als jede andere Lektüre dort ein, wo sich das Kind in seiner seelischen und emotionalen Existenz befindet...

Wie und wo entstanden Märchen?

"Hänsel und Gretel" gibt es auch auf Madgaskar. Das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein heißt in Pakistan etwa "Krokodil und die Gazelle", und beim Froschkönig handelt es sich in Mexiko um eine Froschjungfer. Inklusive Kunstmärchen und Fantasyliteratur gibt es nur 2.500 Märchen - weltweit.

Alles Weitere sind lokale Varianten. Manche Forscher spekulierten, dass alle Märchen ursprünglich aus Afrika stammen und durch Völkerwanderungen über den ganzen Erdball verteilt wurden. Andere behaupteten, es seien Relikte germanischer Mythen, die sich auf diese Weise verbreitet hätten.

Heute geht man davon aus, dass die Märchen unabhängig voneinander auf der ganzen Welt entstanden sind. Märchenforscher sympathisieren mit der Archetypen-Theorie des Schweizer Psychoanalytikers Carl Gustav Jung. Dieser geht von einem "kollektiven Unbewussten" aus, das allen Menschen gemeinsam sei und sich etwa in Kunst, Religion, Mythen - und in Märchen ausdrücke.

Verena Kast, Dozentin und Lehranalytiker am Zürcher C.-G.-Jung-Institut, ist überzeugt, dass sich die Märchenmotive wie die Mythen aus dem kollektiven Unbewussten der Menschheit speisen, sie zielen aber, so die Psychoanalytikerin, meist auf handfestere Probleme der Menschen als die "großen" Stoffe der Mythen. Und: Märchen gehen immer gut aus. Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag 7. Dezember bis Donnerstag, 10. Dezember 2009, 9:30 Uhr