Fremdheit ist keine Frage der Kultur

Ist der Islam in Europa Integrierbar?

Die Begegnung und Konfrontation mit den islamischen Kulturen der Zuwanderer/innen in Europa hat eine Debatte ausgelöst, was eine "islamische Identität" und was eine "europäische Identität" ist. Doch niemand geht nur in einer einzigen Identität auf.

Der Schriftsteller Navid Kermani besitzt zwei Pässe: einen iranischen und einen deutschen Pass. Geboren und aufgewachsen ist er als Kind einer iranischen Arztfamilie in der kleinen Universitätsstadt Siegen in Nordrheinwestfalen.

Er fühlte sich nie als Fremder - trotzdem nahm er deutlich wahr, dass es eine unsichtbare Schwelle gab, die er übertrat, wenn er nach der Schule heimkam - die Sprache wechselte, aber auch die Gerüche, Geräusche und Benimmregeln.

Auch seine Freunde nahmen diese Schwelle wahr - und kamen lieber zu ihm nach Hause spielen, vielleicht, weil es weniger Verbote und Regeln gab als bei ihnen daheim. Diese doppelte Identität erlebt Kermani bis heute als einen Vorteil: "Ich brauchte nie Aufklärung darüber, dass das, was ist, nicht alles ist."

Wer ist ein echter Moslem?

Navid Kermani ist Moslem und er ist ein Fan des US-amerikanischen Sängers Neil Young. Ist er trotzdem ein echter Moslem? Aber: was ist ein echter Moslem? Identität ist eine Einschränkung und Festlegung, sagt Kermani - und wer anderen eine Identität zuweist, macht sich die Sache zu einfach. Denn die Wirklichkeit ist höchst komplex.

Tausend und eine Nacht zum Beispiel ist voll von erotischen Geschichten - und zugleich voll Anspielungen auf den Koran und die islamische Kultur. Für islamische Fundamentalisten widerspricht das einer "echten islamischen Identität" - und manche wollen deswegen Tausend und Eine Nacht, als "unislamisch" verbieten. Die persische islamische Mystik ist voll von erotischen Bildern - auch sie ist nach dieser Auffassung "unislamisch".

Religion lässt sich nicht eindeutig definieren

Kultur ist nichts, was sich eindeutig definieren lässt - genauso wenig wie Religion. Navid Kermani ist selbst ein frommer Muslim, und er ist in einer Atmosphäre weitherziger muslimischer Frömmigkeit aufgewachsen.

Seine Onkel und älteren Cousins halten das rituelle Gebet streng ein, verzichteten aber deswegen nicht auf den abendlichen Wodka. Ambivalenzen und Widersprüche machen den Geschmack von Kultur und Religion aus. Eindeutigkeit verlangen nur Fundamentalisten - und Fernsehmoderatoren, die Navid Kermani nahelegen, dass er doch kein echter Moslem sei.

Fremd sein

Alle Menschen sind irgendwo Ausländer, lautet ein Spruch, den man manchmal auf Ansteck-Knöpfen lesen kann. Fremd ist man nicht unbedingt im Ausland. Navid Kermani zum Beispiel erlebte sich in der Schule kaum als fremd, obwohl er sich in manchem von seinen Klassenkameraden unterschied.

Wirklich fremd war er im Fußballverein. Seine Kameraden kamen aus den Arbeitervierteln, Kermani selbst wohnte in einem der besseren Vororte. Ähnliches erlebte Navid Kermani auch, wenn die Familie im Sommer in den Iran auf Urlaub fuhr. Auch hier gab es im Sommerhaus Sesseln, Tische, Sofas, Fernseher, usw.. Doch beim Gärtner saß die Familie am Fussboden, und im Basar liefen die Kinder barfuß und in Lumpen.

Fremdheit ist keine Frage der Kultur oder der Religion, sondern eine Frage der sozialen Herkunft und der Bildung. Arm und Reich, Stadt und Land, das sind die Kategorien, die trennen - nicht sosehr Religion oder Hautfarbe, vorausgesetzt, man lebt nicht in einem rassistischen Staat, sagt Navid Kermani.

Die türkischen Bauern, die in den fünfziger und sechziger Jahren als Gastarbeiter kamen, stammten aus Anatolien - und die Reise nach Mitteleuropa war eine Zeitreise für sie.

Vielfalt macht Kulturen lebenswert

Viele meinen, dass man entweder nur zu der einen oder zu einer anderen Kultur gehören kann und einen Identitätskonflikt bekommt, wenn man vielleicht wie der Schriftsteller Kermani zwei Pässe - einen iranischen und einen deutschen - besitzt.

Doch das ist ein Ergebnis des Identitätswahns, der Europa in der ersten Hälfte 20. Jahrhundert befallen hat, sagt Navid Kermani. Dass es in einer Gesellschaft Andere, fremde gibt, ist selbstverständlich. Die Frage ist, wie man das "Anders sein" bestimmt.

Es ist die Vielfalt und nicht die Uniformität, die das Leben in einer Gesellschaft lebenswert macht, sagt Navid Kermani.

Hör-Tipp
Tao, Dienstag, 8. Dezember 2009, 19:05 Uhr

Buch-Tipp
Navid Kermani, "Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime", C.H. Beck