Plädoyer für Individualität und Menschlichkeit
Der Derwisch und der Tod
Mesa Selimovićs Roman ist nicht nur ein Plädoyer für Individualität und Menschlichkeit, es erzählt auch von der schwierigen Situation des bosnischen Volkes zwischen den Auflagen des Korans und dem abendländischem Christentum.
8. April 2017, 21:58
Seit dem Zerfall Jugoslawiens sind immer wieder Diskussionen entstanden, welchen der vielen Nationalitäten ein einst jugoslawischer Autor eigentlich gehört. Im Falle des Schriftstellers Mehmet Mesa Selimović schien die Situation, ähnlich wie bei dem Nobelpreisträger Ivo Andrić, besonders kompliziert zu sein.
Selimovićs Ethnizität führte immer wieder zu Kontroversen. Als Kind einer muslimischen Familie ist er 1910 im kleinen bosnischen Städtchen Tuzla zur Welt gekommen. Bis zu seinem Tod im Jahre 1982 bezeichnete er sich selbst aber immer wieder als Serbe. In seinen Memoiren begründet er das mit seinen serbisch-orthodoxen Familienwurzeln, die er in der östlichen Herzegowina verortet.
Die türkisch-islamische Zeit Bosniens
In seinem nun neu aufgelegten Roman "Der Derwisch und der Tod", der heute zu den jugoslawischen Klassikern gehört, hat sich Mesa Selimović mit seinen muslimischen Wurzeln beschäftigt. Das Werk hat nichts an Aktualität eingebüßt, mehrfach wurde der Autor aufgrund dieses Romans in Stockholm für den Nobelpreis vorgeschlagen.
Die bosnische Vergangenheit ist hier sein großes literarisches Thema, vor allem die türkisch-islamische Zeit, die bis heute Bosnien prägt. Selimović hat sie wie kaum ein anderer Autor beschrieben. Nur Ivo Andrić hat uns ähnlich kostbare literarische Lektionen in bosnischer Geschichte hinterlassen.
Ein Kaleidoskop an Mentalitäten
Bei Selimović haben wir es in der Hauptfigur mit einem reisenden Derwisch und somit mit einem Gottesmann zu tun. Durch ihn und seine vielfältigen Begegnungen eröffnet sich dem Leser ein Kaleidoskop an Mentalitäten. Die Musikalität der islamischen Mystik, wie wir sie etwa aus den Gedichten des persischen Dichters Jalalludin Rumi kennen, ist schon auf den ersten Seiten von Selimovićs Werk spürbar.
Die Selbstwerdung des Derwischs ist einer strengen moralischen Innenbetrachtung unterworfen. Immer wieder nimmt er sich als Erzähler seiner Geschichte vor, Richter, Zeuge und Angeklagter in einer Person zu sein. In einer nicht näher benannten Zeit lebt er fern des weltlichen Treibens zurückgezogen in einer Art Kloster.
Eines Tages läuft ihm ein Gefangener zu, der seinen Bewachern entwischt ist. Er kann sich nicht entscheiden, dem Flüchtigen zu helfen. Doch gerade sein Nichtstun ist es, das ihn überleben lässt. Als aber der Bruder des Derwischs der staatlichen Willkür ausgesetzt wird und gleichsam schuldlos in Konflikt mit dem gegebenen Gesetz gerät, wird der Derwisch aus seiner metaphysisch begründeten Zurückhaltung herausgeholt.
Verbitterung statt Erleuchtung
Zusammen mit Räubern, Totschlägern und Feinden des Sultans hatte man seinen Bruder eingekerkert. Mit altbewährter Weisheit und Umsicht unternimmt der Derwisch nun den Versuch, ihn zu retten. Doch er scheitert und wird nun durch diese äußeren Umstände an seine Trauer herangeführt und gezwungen, sein eigenes Leben ganz neu zu betrachten. Er muss sich Fragen stellen und seine Religiosität vor dem Hintergrund dieser neuen Situation überprüfen.
Wie tief ist seine innere Ruhe wirklich? Was kann die Metaphysik in einem Menschenleben tatsächlich ausrichten, wenn im Außen Gewalt und Unterdrückung an der Tagesordnung sind? Verbitterung tritt an die Stelle der alten Gewissheit um Erleuchtung. In melancholisch anmutenden inneren Monologen versucht nun der einst so in sich ruhende Derwisch seinen Zustand zu erfragen und zu verstehen.
Keine Hilfe von Gott
Die Suche nach dem Bruder lässt den Gottesmann immer tiefer seine eigene Verzweiflung spüren. "Mein Gott", stößt er einmal aus, "ich habe niemanden außer dir und meinem Bruder." Doch der Ruf nach Gott hilft ihm nicht, der Bruder wird ermordet.
Die Not, die sich in seinem Ausruf ausgedrückt hatte, spitzt sich immer mehr zu. Sein Leben ändert sich nun auch schlagartig. Nach einer öffentlichen Verlautbarung seiner Trauer um die Ermordung seines Bruders wirft man nun auch ihn in einen Kerker. In Einzelhaft, auf dem Boden einer feuchten Zelle, kulminiert seine Not in namenlose Verzweiflung. Sein innerer Konflikt weitet sich aus. Wie kann er dem Koran und Gott weiterhin treu sein, wenn die äußere politische Wirklichkeit dieses Leid und sogar die Ermordung eines Unschuldigen mit sich bringen kann?
Zwischen Islam und Christentum
Bei aller spirituellen Introspektion verliert Selimović aber nie die konkrete politische Situation aus den Augen. Sein Buch "Der Derwisch und der Tod" ist deshalb nicht nur ein Plädoyer für Individualität und Menschlichkeit, es erzählt auch von der schwierigen Situation des bosnischen Volkes, das in der Reibung zwischen dem muslimischen Reich, den Auflagen des Korans und dem abendländischem Christentum seine eigene Position und Rolle finden muss, ohne sich in dem einen oder dem anderen aufzulösen.
Der Kampf des Derwischs und seine eigene innere Welt ist zugleich der literarische Versuch, einem ganzen Volk die eigene Stimme wiederzugeben, eine Stimme, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr verloren hat. Doch zeigt die jugoslawische Tragödie der 1990er Jahre, wie tief ihr Echo noch den Balkanraum bestimmt.
Schöner als das Leben
Selimovićs Roman wird schon längst zur Weltliteratur gezählt. Die blutigen Ereignisse auf dem Balkan verschafften ihm eine Aktualität, die der Autor sich gewiss nicht gewünscht hat. Aber seine literarische Stimme wird diese unerwünschte Aktualität überdauern, weil sie aus sich heraus trägt und trotz des historisch begrenzten Raumes, in dem sie sich entfaltet, zeitlos ist.
Trotz der Schwere seines Themas schafft es der Autor, eine Leichtigkeit in seinen Geschichten zu evozieren, die überraschend frisch ist. Es sind Geschichten, die tief aus der Erde, wie es einmal heißt, an die Zweige und den Himmel heran reichen. Sie wurden ihm, bemerkt Selimovićs Erzähler, zum Bedürfnis. Es seien Geschichten aus dem Leben, aber schöner als das Leben, heißt es einmal.
Romane wie "Der Derwisch und der Tod" fordern uns heraus, weil sie nicht im Leid hängen bleiben, sondern dieses von innen heraus transparent machen. Damit erhöhen und verwandeln sie es, die Sinnlosigkeit des Seins wird durch Sprache aufgehoben. Selimović gehört zu jener Gattung Schriftsteller, die uns zeigen, dass das Leben manchmal durch das Erzählen heilig werden kann, selbst dann, wenn es nicht glücklich verläuft. Schon allein deshalb verdient es dieses Buch, neu entdeckt und gelesen zu werden.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Mesa Selimović, "Der Derwisch und der Tod", übertragen aus dem Serbischen von Werner Creutzinger, Otto Müller Verlag