Der Islam und die moderne Gesellschaft
Radikale Reform
In seinem neuen Buch "Radikale Reform" versucht Tariq Ramadan eine zeitgemäße islamische Ethik des 21. Jahrhunderts zu formulieren. Er vertritt den Standpunkt, dass nicht nur der Islam von Europa lerne sondern auch der Islam Europa verändere.
8. April 2017, 21:58
16 Millionen Muslime leben in der Europäischen Union. Eine historisch einmalige Situation: Nie zuvor hatten mehr Moslems ihren Lebensmittelpunkt in West- und Mitteleuropa. Eine Entwicklung, die die europäischen Mehrheitsgesellschaften vor mannigfache Probleme stellt; der expandierende Rechtspopulismus ist nur eines davon.
Tariq Ramadan gilt als eine der profiliertesten Stimmen der muslimischen Diaspora in Europa. Unter jungen, gebildeten Moslems in London, Paris oder Wien genießt der polyglotte Islamwissenschaftler aus Oxford fast so etwas wie Kultstatus.
Weltoffene Linie
In seinem neuen Buch "Radikale Reform" befragt Ramadan die kanonischen Schriften des Islam auf ihre Tauglichkeit fürs 21. Jahrhundert. Was hat der Koran etwa zu Sterbehilfe, Gentechnik oder Empfängnisverhütung zu sagen? Wie lassen sich Frauenemanzipation, globalisierte Massenkultur und die neoliberale Weltwirtschaftsordnung mit dem Islam vereinbaren?
Tariq Ramadan bemüht sich um eine weltoffene Linie. Empfängnisverhütung habe der Prophet weder verboten, noch halte er sie für verwerflich, schreibt Ramadan, die Frau habe während des Sexualakts ebenso ein Anrecht auf körperliche Lust wie der Mann, und entgegen einer weit verbreiteten Überzeugung kenne der Islam auch kein verbindliches Abtreibungsverbot.
Problematischer Neoliberalismus
Tariq Ramadan äußert sich in seinem Buch auch zu Fragen der Wirtschafts-Ethik. Den herrschenden Neoliberalismus hält er - nicht anders als Jean Ziegler oder Joseph Stiglitz - für zutiefst problematisch:
"Die Kritik am Neoliberalismus ist nicht spezifisch islamisch", so Ramadan im Gespräch. "Sie lässt sich auch von einem christlichen oder jüdischen Standpunkt aus formulieren, oder von einem allgemein humanitären Standpunkt aus. Die globale Wirtschaftsordnung hat ein gravierendes ethisches Problem: Geld, Gewinn und Profit stehen im Vordergrund und nicht die Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen. Vom Standpunkt einer islamischen Ethik aus muss man die Prioritäten aber anders setzen. Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen und nicht die Menschen der Wirtschaft. Das heißt für mich: Wir müssen Widerstand leisten gegen die kapitalistische Ökonomie unserer Zeit, wir müssen den Neoliberalismus bekämpfen, wir müssen die Aktivitäten der Banken genau beobachten und die Aktivitäten der transnationalen Konzerne erst recht, vor allem auch die der Waffenindustrie. Mit einem Wort: Wir müssen dem wieder mehr Bedeutung geben, was die Menschen wirklich brauchen."
Gegenseitige Veränderung
Wer heute durch bestimmte Viertel in London oder Rotterdam spaziert, wird feststellen: Die europäischen Muslime haben Europa verändert. Europa hat aber auch sie verändert, meint Tariq Ramadan. Gut möglich, dass die Wiege eines neuen, weltoffenen, modernen Islam in Europa liegen werde und nicht in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung.
"Früher haben die europäischen Muslime darauf gewartet, dass sie Antworten aus den alten muslimischen Ländern geliefert bekommen", so Ramadan. "Heute warten die auf Antworten von uns. Wenn ich heute etwa Länder wie Marokko, Indonesien oder andere Staaten des arabischen Raums besuche, hören mir die Leute zu und sagen: Was meinst Du zu dieser oder jener Frage? Wie seht ihr das in Europa? Das heißt: Natürlich verändert Europa den Islam, aber der Islam verändert auch Europa."
Ramadan, ein "doppelzüngiger Orientale"?
Der Islam verändert Europa - eine Aussage, die Abendlandrettern der verschiedensten Couleurs möglicherweise Panikschauer über den Rücken jagen wird. Tariq Ramadan ist eines ihrer bevorzugten Feindbilder. Ramadans Gegner - und deren gibt es viele - werfen dem eloquenten Oxford-Gelehrten vor, er repräsentiere das freundliche Antlitz des islamischen Fundamentalismus, er sei ein Wolf im Schafspelz, der Hardliner-Positionen hinter einem weltgewandten und stets freundlichen Auftreten verberge. Eine Unterstellung, die Ramadan scharf zurückweist:
"Wenn die Leute so etwas sagen, antworte ich immer: Seid vorsichtig! Es ist ein altes rassistisches Stereotyp, das ihr da vorbringt: der doppelzüngige Orientale, der etwas anderes sagt als er meint. In den 30er und 40er Jahren hat man das Gleiche über die Juden gesagt. Ich antworte den Leuten immer: Lest, was ich in den letzten 25 Jahren geschrieben habe, überprüft, was ich den Leute in dieser Zeit gesagt habe, und wenn ihr irgendwo einen Beleg für so etwas wie Doppelzüngigkeit findet, zeigt es mir. Aber das ist kein zukunftsweisende Perspektive."
Zusammenarbeit notwendig
Die Wahlerfolge der populistischen Rechten in Europa - zuletzt den Triumph der Anti-Minarett-Initiative in der Schweiz -, beobachtet Tariq Ramadan naturgemäß mit Unbehagen. Wie soll man seiner Meinung nach mit den Millionen Rechtswählern umgehen, die xenophoben Führerfiguren wie Blocher, Strache oder Wilders hinterherhecheln?
"Es gibt zwei Antworten darauf", meint Ramadan. "Erstens: Es ist wahr, dass rechtspopulistische Parteien stärker werden in Europa, aber nicht nur die Parteien werden stärker, auch ihre Rhetorik wird schärfer. Rassistische und islamfeindliche Parolen, die gestern noch von Rechtsaußen gekommen sind, werden heute auch von den traditionellen Parteien verwendet, man empfindet solche Aussagen fast schon als normal. Das ist alarmierend. Die traditionellen Parteien, ob Mitte-rechts oder Mitte-links, sollten sich nicht ins Fahrwasser der Populisten begeben, meine ich. Sie sollten die Probleme der modernen, multiethnischen Gesellschaften mit sozialpolitischen Maßnahmen zu lösen versuchen und nicht mit populistischen Parolen."
"Rassismus und Islamophobie sind gefährlich", so Ramadan weiter, "nicht nur für die europäischen Muslime, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger in Europa. Das ist das eine. Ich möchte aber auch den Muslimen hier in Europa eine Botschaft zurufen: Kommt endlich aus eurer Opferrolle heraus! Hört auf, euch als arme, verfolgte Opfer zu fühlen. Engagiert euch in der Gesellschaft, in der ihr lebt, sucht den Dialog mit euren Mitbürgern, arbeitet in den traditionellen Parteien mit. Die Zukunft gehört nicht den Populisten, sondern euch! Kurz gefasst würde ich meine Position so zusammenfassen: Die europäischen Muslime sollten es sich nicht in ihrer Opfermentalität bequem machen, und die europäischen Mehrheitsgesellschaften sollten nicht den Populisten hinterherrennen. Wir haben alle zusammen eine große Verantwortung. Und wir müssen zusammenarbeiten."
Ernst zu nehmender Gelehrter
Tariq Ramadans neues Buch richtet sich an eine vorwiegend muslimische Leserschaft. Ramadan präsentiert sich als gläubiger Muslim, der die Traditionen seiner Religion ernst nimmt, der die Errungenschaften der Moderne aber dennoch nicht in Bausch und Bogen verdammen möchte. Dass man sich mit dem Islam-Gelehrten aus Oxford seriös auseinandersetzen kann und muss, werden wohl nicht einmal seine erbittertsten Gegner bestreiten.
Service
Tariq Ramadan, "Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft", aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Möller und Anne Vonderstein, Diederichs-Verlag
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