Reise zu den Wurzeln der Wirtschaft

Bazar statt Börse

Beim Begriff "Wirtschaft" denkt man eher an Globalisierung als an den Greißler ums Eck oder einen Standler vom Wochenmarkt. Der Wirtschaftsfachmann Conor Woodman stieg aus seinem Finanzjob aus und erforschte die Wurzeln des Handels.

"Ich muss Ihnen leider sagen, dass Sie alle mit sofortiger Wirkung entlassen werden. Ihnen steht für jedes Jahr bei diesem Unternehmen eine Abfindung von 200 Pfund zu, allerdings nur bis zu einem Höchstbetrag von 800 Pfund. Außerdem haben Sie das Recht, ab sofort Arbeitslosenunterstützung zu beantragen."

Im Sommer 2004 starrten Conor Woodman, dem jungen, schnieken Finanzanalytiker aus London, 20 verwirrte, wütende, verzweifelte, ja fassungslose Gesichter entgegen. Zuvor wurde der bestens verdienende und über ein schickes Loft im Zentrum von London verfügende Angestellte eines großen amerikanischen Konzerns beauftragt zu berechnen, wie man aus der verschuldeten Glasfabrik in Nordengland am meisten Kapital herausschlagen konnte. Die Rechenaufgaben wurden prompt erledigt, die erstmals real erlebte Verzweiflung von 400 Entlassenen brachte Mister Woodman jedoch gehörig ins Grübeln. Wie konnte er solche Nachrichten überbringen? Dafür soll er also Betriebswirtschaft studiert haben?

Geschicktes Handeln gefragt

Woodman beschloss zu kündigen und sich jenen Fragen zu widmen, die ihm den Glauben an die Wirtschaft zurückbringen sollten.

Wie verhalten sich die Leute in einem alten Warenmarkt im Vergleich zur unbarmherzigen Welt der Unternehmensfinanzierung? Sind sie genauso rücksichtslos? Und: Konnte ich die Kenntnisse, die ich mir als Ökonom und Analyst angeeignet hatte, benutzen, um im Konkurrenzkampf zu bestehen und Gewinne zu machen oder würde ich schlicht zu weiß, zu grün oder gar zu gelb sein?

Um die Welt der Wirtschaft und die beteiligten Menschen richtig zu verstehen, startet Woodman ein ausgeklügeltes Experiment. Er tritt unter Einhaltung selbst auferlegter Regeln gegen die gewieftesten Händler der Welt an.

Um seine sechsmonatige Reise zu finanzieren, muss Woodman genauso geschickt handeln wie die Verhandlungsexperten vor Ort. Dazu muss er in kürzester Zeit die Tricks der Händler durchschauen und darf sich keinesfalls von ihnen linken lassen.

Teppiche im Suk von Marrakesch

Doch damit nicht genug an Hürden. Die Zukunft seines Projekts lässt er vom Ergebnis der ersten Station abhängen. Die Aufgabe: Mit einem Limit von 500 Pfund muss er in nur drei Tagen im Suk von Marrakesch auf einem der ältesten Märkte der Welt reüssieren. Teppiche sind in Marokko der Stoff aus dem die Träume sind. Jeder scheint aus einer Familie zu stammen, die seit jeher die allerbeste Ware feilbietet.

Zunächst wird also der Markt sondiert. Woodman studiert und vergleicht Angebot, Händler- und Käuferverhalten im Suk und im nobelsten Einkaufscenter der Stadt. Bald erkennt er, dass Touristen vor allem dann Teppiche kaufen, wenn ihnen die Entstehungsgeschichten, die von den Händlern traditionellerweise in den blumigsten Ausschmückungen erzählt werden, zu Herzen gehen. Als er erfährt, dass die meisten dieser anrührenden Geschichten beliebig eingesetzt werden oder überhaupt vollkommen erfunden sind, wittert er seine Chance.

Er fährt in ein Berberdorf im Süden Marokkos und ersteht nach langwierigen Verhandlungen in einem Privathaushalt den allerletzten Teppich, den die allseits beliebte Großmutter gewebt hat. In Marrakesch gelingt es ihm schließlich mit dieser herzerweichenden Geschichte ein italienisches Touristenpaar vom Kauf des Teppichs zu überzeugen. Der dabei erzielte Gewinn wird als ausreichend für den Start einer beispiellosen Weltreise betrachtet.

Aufblühende Entwicklungsländer

In der westlichen Welt sind wir entweder zu höflich, um nach einem Preisnachlass zu fragen, oder wagen das nicht. Da wir uns in der Kunst des Verhandelns nicht mehr auskennen, reisen die Touristen in Länder wie Marokko und bezahlen für alles, was sie dort kaufen, viel zu viel. Die Marokkaner lachen sich auf dem ganzen Weg zur Bank ins Fäustchen.

Welche Länder kommen für das Vorhaben in Frage? Der selbst ernannte Handelsreisende konzentriert sich auf ehemalige Entwicklungsländer, die inzwischen aufgeblüht sind. Wichtig sind Menschen, die gut genug verdienen, um Geld ausgeben zu können. Industrienationen wiederum fallen weg, weil dort die guten Geschäfte schon in festen Händen sind.

Wie im Großen, so im Kleinen

Schon bei seiner zweiten Station im Sudan wird dem gebürtigen Iren klar, dass ein Modell wie das globale Finanzsystem mit seiner unübersehbaren Anzahl von Banken, die sich gegenseitig Kredite gewähren, auch im Kleinen überall stattfindet. Der Kamelhandel in Afrika ist das beste Beispiel dafür. Reales Geld kommt nur ins Spiel, wenn der Endabnehmer tatsächlich zahlt. Erst dann begleichen die zahlreichen Zwischenhändler ihre Schulden.

Sein Plan, Kamele im sudanischen Süden billig einzukaufen und dann mit einer beträchtlichen Gewinnspanne in Ägypten zu verkaufen, geht jedoch gründlich schief. Er scheitert vor allem daran, dass niemand in diesem paranoiden Polizeistaat glaubt, dass er tatsächlich nur dieses einzige Geschäft abwickeln möchte und ihn vor allem die Behördenvertreter stets für einen Spion halten. Die allgegenwärtige "Inschallah"-Einstellung boykottiert ebenfalls seine Vorhaben.

Ich frage mich, ob dieser ergebene Glaube sich generell nicht mit einer blühenden Wirtschaft verträgt – wenn niemand dafür verantwortlich ist, dass er morgen das liefert, was er heute verspricht, da man sich ja immer auf die wunderbare Rechtfertigung zurückziehen kann, dass Allah es einfach nicht so gewollt hat.

16 Länder in sechs Monaten

Der anfängliche Misserfolg scheint Woodman jedoch zu beflügeln. Er bringt Kaffee aus Sambia über Botswana nach Südafrika, er handelt mit Jade in China und mit Pferden in Kirgisien. Von Afrika über Asien und Südamerika bis nach Europa führt sein Weg zurück zu den Wurzeln der Wirtschaft und des Handels. Er bereist dabei in sechs Monaten 16 Länder und vier Kontinente.

Woodman schlägt sich mit den mühsamsten Zollbeamten herum, analysiert die verschiedenartigsten Märkte, feilscht mit den gewitztesten Händlern. Es ist verblüffend, wie schnell er sich auf die jeweilige Situation einstellt und es trotz aller Tücken tatsächlich fast immer schafft, "Geschäfte zu machen", also Handel zu treiben auf die ursprünglichste Art: eine Ware zu kaufen und sie anderswo mit Gewinn wieder zu verkaufen.

Lebendige Analyse

Die Vorlage zum Buch ist die vierteilige BBC-Dokumentation "Around The World in 80 Trades". Und natürlich denkt man sich, da oder dort wird die Gegenwart eines Kamerateams schon einmal die eine oder andere Tür geöffnet oder zumindest für freundliche Gesichter gesorgt haben. Wahrscheinlich ist aber kaum jemand dem "Abenteuer Wirtschaft" so nahe gekommen wie Conor Woodman. Sein unterhaltsamer Bericht ist lebendige Analyse und spannende Abenteuerreise zugleich. Und ein Buch, das Mut machen könnte, durchaus auch einmal zu den Wurzeln der eigenen Profession vorzudringen.

Wenn man in einem Büro in London sitzt, glaubt man leicht, das sich alles ums große Geld dreht; in Wirklichkeit ist das große Geld aber nur die Summe all der kleinen Beträge, die im System herumwirbeln und von Menschen erzeugt werden, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Und eben darum geht es letztlich - um das Leben.

Service

Conor Woodman, "Bazar statt Börse. Meine Reise zu den Wurzeln der Wirtschaft", aus dem Englischen übersetzt von Ingrid Proß-Gill, Hanser Verlag

Hanser Verlag - Bazar statt Börse