Vom Ende der "Friedhofsruhe"

Die Kreisky-Jahre

Vor 40 Jahren gewann die SPÖ bei den Nationalratswahlen gegen die bisher regierende ÖVP. 13 Jahre lang war dann Bruno Kreisky österreichischer Bundeskanzler: von 1970 bis 1983. Die Kreisky-Jahre waren Jahre des Auf- und Umbruchs - auch im Kulturbereich.

In den 1970er Jahren war man in Österreich schnell einmal "Terrorist". Dieses Wort gehörte zur Standardinvektive konservativer und rechtsnationaler Politiker und Journalisten in einer als Kulturkampf verstandenen Abwehrschlacht gegen die Folgen sozialdemokratischer Kulturpolitik.

Kultur und Ökonomie vereinen

Zum Redaktionsbeirat des "Forum" gehörte der Journalist und Autor Fritz Herrmann, der 1970 von Unterrichtsminister Leopold Gratz als kulturpolitischer Berater verpflichtet wurde. Er entwickelte dann unter Fred Sinowatz ein Konzept, das vorsah, die bildungsbürgerliche Trennung von Kultur und Ökonomie aufzuheben, um eine sozialistische Kultur als "prinzipiell neue Möglichkeit des menschlichen Existierens in einer Gesellschaftsform jenseits kapitalistischer Zwangs- und Herrschaftsverhältnisse" zu etablieren. Im "Forum" publizierte er 1977 ein Spottgedicht mit dem Titel "Trara, trara, die Hochkultur", in dem er seine Ablehnung des bürgerlichen Kulturbegriffs satirisch behandelte.

Ein jeder Mensch hat sei' Kultur
dem Volk steht nur die niedre zua,
doch d'besser'n Leut zieht's von Natur -
trara trara - zur Hochkultur!

Kriminalisierte Avantgarde

In Ermangelung einer demokratischen Tradition bot die Kultur das geeignete Material für die Grundsteinlegung der Zweiten Republik als "Kulturnation" - und als solche immer schon dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtet. Repräsentation statt Erinnerung und Elite statt Masse - dieses bürgerliche Deutungsmuster blieb bis 1970 seitens der SPÖ weitgehend unwidersprochen.

Die heimische Avantgarde der 1950er und 1960er Jahre blieb aus den hauptsächlich von Repräsentanten des ehemaligen Ständestaats geleiteten Institutionen ausgeschlossen, wurde marginalisiert, pathologisiert oder kriminalisiert. Dass mit der SPÖ-Alleinregierung ab 1971 die von Elfriede Gerstl konstatierte Friedhofsruhe ein mitunter lautstarkes Ende fand, hat zweierlei Gründe: Zum einen gehörte zum Konzept einer pluralistischen Gesellschaft nicht nur die Öffnung der Bildungsinstitutionen oder die Frage des Geschlechterverhältnisses, sondern auch die Neudefinition von Kultur - die innerhalb der SPÖ allerdings nicht erst neu definiert werden musste: "Der Sozialismus ist im Grunde gar keine Arbeiterbewegung, sondern eine Kulturbewegung", heißt es etwa bei Max Adler, gemeinsam mit Otto Bauer ein Proponent des linken Parteiflügels vor 1934.

Der andere Grund für die nachhaltige Störung der Friedhofsruhe waren der Generationenwechsel und die damit verbundene Emanzipation von Traditionslinien, die als belastet galten - nicht nur durch den Nationalsozialismus oder den Nationalkatholizismus in den Jahren davor, sondern auch durch die Gründungsmythen der Zweiten Republik.

Dekonstruktion identitätsbildender Mythen

In Literatur, Theater und Film wurde diese Emanzipation aber nicht durch die Hinwendung zur Avantgarde vollzogen, sondern durch einen Realismus, der an die kurze Phase des Naturalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert erinnerte. Der inszenierten Wirklichkeit sollte ein Befund der realen Lebensverhältnisse, der nach wie vor bestehenden Klassenunterschiede, der psychischen Deformation durch Schule, Kirche und Familie entgegengesetzt werden - ein Abbild des Hier und Jetzt mit einer unausgesprochenen aber eindeutigen Zielsetzung: die Überwindung der Nachkriegsordnung.

Dazu mussten starke und identitätsbildende Mythen dekonstruiert werden. "Die Heimat" zum Beispiel, im Ständestaat, im Dritten Reich und dann bis weit in die 1960er Jahre der Inbegriff für den "Gegen-Ort", der sich allen Veränderungen widersetzt, eine Art nationales Himmelreich, in welches die internationale Politik ebenso wenig hineinreicht, wie Diskurse über Schuld und Verantwortung.

Die Heimat wurde zur "Anti-Heimat", zum Ort der sozialen Kälte und des bereits in seiner Kindheit erniedrigten und gebrochenen Individuums. Franz Innerhofers Romane über die Entwicklung eines jungen Mannes vom entrechteten Kinderarbeiter auf einem Salzburger Bergbauernhof zum aufgeklärten Bürger, dem die heimische Kleingeisterei dann aber noch deutlicher ins Bewusstsein tritt, waren eine ebenso zeittypische kulturelle Hervorbringung wie die Romane Gernot Wolfgrubers über Klassenkämpfe im unteren Gesellschaftssegment.

Forum Fernsehen

Der Arbeiter ging in den 1970er Jahren bereits im Mittelstand auf, literarisch wurde er zunehmend zu einer historischen Figur, das Proletariat zu einer überwundenen Existenzform. Das konservative Lager empörte sich auch gar nicht über die sogenannten "einfachen" Leute, die in Büchern und auf dem Theater, bei Peter Turrini etwa, ihr beschädigtes Leben reflektierten. Die Gemüter erhitzten sich vielmehr an der künstlerischen Bearbeitung historischer Themen, die einige Jahrzehnte lang weitgehend außerhalb des öffentlichen Diskurses lagen. Hier vor allem die Ausschaltung des Parlaments durch die Christlichsoziale Partei unter Engelbert Dollfuß, die Februar-Unruhen von 1934, die Verantwortung für eine Politik, die zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich führte.

Es war das Fernsehen, das jungen Autoren und Regisseuren die Möglichkeit bot, diese Themen zu gestalten. Wilhelm Pevny, Peter Turrini und Dieter Berner etwa mit der "Alpensaga" - dem großen Aufreger in den Jahren 1976 und 77. Natürlich gerieten die Macher unter Terrorismusverdacht.

Dem Realismus der Alpensaga stand 1977 der Surrealismus der "Staatsoperette" von Otto M. Zykan und Franz Novotny entgegen. Die musikalische Satire über die letzten Tage der Ersten Republik - beziehungsweise über den Untergang eines dekadenten Zwergenstaates - brachte es auf über 1.500 Anzeigen.

Karajan empört

Doch auch die Ermöglicher stießen an ihre Grenzen. Etwa wenn der kulturpolitische Vordenker der SPÖ, Fritz Herrmann, in seinem Spottgedicht "Trara, trara, die Hochkultur" feixte:

Es scheißt der Herr von Karajan
bei jedem falschen Ton sich an
und wascht sein Arsch im Goldlawur -
anal sein g'hört zur Hochkultur!


Der empörte Karajan drohte damit, sämtliche Auftritte in Österreich abzusagen. Fred Sinowatz lenkte ein, entließ Fritz Herrmann und entschuldigte sich beim Dirigenten. Die größere Niederlage musste die SPÖ allerdings 1976 einstecken, als im Zuge der Forderung nach einem autonomen Veranstaltungsort die Arena im ehemaligen Auslandsschlachthof St. Marx drei Monate lang besetzt und bespielt wird.