Düsternis mit Hoffnungsschimmer

Der Mann schläft

Es passiert nicht viel in Sibylle Bergs Roman, jedenfalls nicht in der Außenwelt. Die eigentliche Handlung spielt sich im Inneren ab: Die Autorin seziert die Gefühlswelt einer verlassenen, nicht mehr jungen Frau, die sich als unliebenswert empfindet.

Es gibt keinen Grund, weiterzuleben, und warum ein Mensch, der nicht mehr in der Lage ist, reibungslos seinem biologischen Auftrag nachzukommen, noch am Leben hängt, ist mir unklar. Vielleicht hatte die Natur keine Lust mehr, eine extra Schaltung für Lebensmüde und Alte einzubauen, war beschäftigt mit der Erschaffung von Ameisenbären, ein fürwahr aberwitzig aufwendiges Unterfangen.

Düstere Worte der Autorin Sibylle Berg - und düster ist auch der ganze Roman mit dem Titel "Der Mann schläft". Der Mann, das ist der Geliebte der Protagonistin, einer Frau Mitte 40, die ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Gebrauchsanweisungen verdient und mit sich und der Welt eigentlich schon abgeschlossen hat - bis ihr plötzlich eben jener Mann über den Weg läuft, auf den zu hoffen sie schon nicht mehr gewagt hatte.

Ungewohntes Wohlgefühl

Er ist ein Mann ohne besondere Vorzüge, nicht reich, nicht schön, nicht brillant, der sich nur dadurch auszeichnet, dass er ihr das Gefühl gibt, liebenswert zu sein. Unsicher und voller Zweifel lässt sie sich auf eine Liebesbeziehung ein. Sie wagt nicht, ihn beim Namen zu nennen, spricht nur von "dem Mann", denn sie fürchtet, dass sich alles, dem man einen Namen gibt, wieder entfernt; sie sehnt sich nach dem Glück und kann doch selbst nicht recht daran glauben.

Unsere erste Verabredung war nicht mehr als schweigendes Wackeln am See, und Wohlgefühl auf einer Ebene, auf der ich mich zuvor nicht sehr oft aufgehalten hatte. Der Mann brachte mich zu meiner Wohnung, wir hielten uns, und dann verschwand er in die Nacht. Ich hatte ihn nicht gefragt, wann er zurück nach Hause wollte. Aber ich hoffte, nie.

Gedanken voll Resignation

All das ist jedoch zu Beginn des Romans bereits Vergangenheit, liegt vier Jahre zurück. In der Gegenwart ist die Frau wieder allein, auf einer Insel irgendwo im südchinesischen Meer, wo sie mit ihrem Geliebten Urlaub machen wollte. Aber eines Tages fuhr er zum Festland, um Zeitungen zu kaufen, und seither ist er verschwunden.

Die Frau weiß nicht, was mit ihm geschehen ist, ob er sie verlassen hat, ob er einen Unfall hatte. Anfragen in den örtlichen Krankenhäusern und bei der Polizei blieben erfolglos und so wartet sie Tag für Tag, geht am Meer entlang, starrt auf die Wellen und hängt ihren Gedanken nach - dunklen, zerstörerischen Gedanken voller Resignation und Selbsthass.

Das ist also von meinem Leben geblieben. Kein Erfolg, kein Geld, und noch nicht mal jemand, der mir auf die Nerven gehen könnte. Ich habe vor einigen Wochen mit denen telefoniert, die ich als Freunde bezeichne, einfach weil es gewollt salopp klingt, immer von Bekannten zu reden. Sie hörten meinem Gestammel zu, den wirren Gedanken, dem Weinen, und eine große Hilflosigkeit war allen eigen. Sie gaben Ratschläge. Wie ich weiterleben sollte, sagte mir keiner.

Sinn- und ziellose Welt

Es passiert nicht viel in Sibylle Bergs Roman, jedenfalls nicht in der Außenwelt. Ab und zu spricht die Frau mit Einheimischen, sie lernt die kleine, altkluge Kim kennen und einen alten Chinesen, der unter dem Tod seiner Frau so sehr leidet, dass er sich, seit sie gestorben ist, jeden Tag mit dem Messer einen neuen Schnitt am Bein zufügt.

Die eigentliche Handlung jedoch spielt sich im Inneren ab und die Autorin seziert gnadenlos die Gefühlswelt einer verlassenen, nicht mehr jungen Frau, die mit ihrem Alter hadert, sich selbst als hässlich und unliebenswert empfindet und sich eigentlich nur aus Trägheit nicht umbringt. Die Welt dieser Frau ist sinn- und ziellos, denn ihr ganzes Vertrauen konzentrierte sich auf diesen Mann, der sie nun, absichtlich oder unabsichtlich, allein gelassen hat.

Es ist alles Zufall. Nichts hat man sich verdient, gutes Benehmen garantiert kein langes Leben, es gibt weder Gerechtigkeit noch Vernunft, es gibt keine göttliche Weltordnung oder was auch immer wir herbeisehnen, um uns nicht ausgeliefert zu fühlen. Es kann alles vorbei sein in der nächsten Sekunde, oder noch schlimmer: Es kann alles genauso weitergehen.

Kein Blatt vor dem Mund

Tatsächlich ist Sibylle Bergs Buch ein veritabler Feldzug: gegen Dummheit und Trägheit, gegen gesellschaftliche Missstände und eine vorgebliche Emanzipation, die sich erschöpft, sowie der nächste Mann auf der Bildfläche erscheint. Dabei nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund, wenn sie die Ängste und Befürchtungen einer nicht mehr ganz jungen Frau durchleuchtet und fast bis zur Groteske seziert, aber auch, wenn sie die anderen aufs Korn nimmt, jene anderen, die ihre Protagonistin nur in den seltensten Fällen ertragen kann.

Bei jedem, der behauptete, Menschen zu lieber, vermutete ich einen Geistesdefekt, und der machte mir Angst. Wie ihre Stimmen tiefer wurden, wenn sie sagten: "Ich liebe meine Freunde und meine Familie und täte alles für sie". Ihre überwältigende Liebe sehen wir täglich, sie liegt am Boden, mit einer Axt im Schädel, sie zerren sich gegenseitig vor Gericht, bestehlen sich, es genügt ein falscher Satz der Freunde, die einem so nahe sind, und man merkt, man hat mit keinem etwas gemein.

Versöhnliche Perspektiven

Dennoch: nicht alles in Sibylle Bergs Roman ist pure Hoffungslosigkeit. Die Frau findet Menschen, die ihr trotz allem nahe kommen, Menschen, die sie vielleicht sogar brauchen, was, wie sie meint, immer noch mehr sei als einer, nämlich sie selbst, der sie nicht brauchen kann. Und vielleicht, vielleicht kehrt sogar der Mann wieder zurück - diese Frage nämlich lässt Sibylle Berg ganz bewusst offen und gibt ihrem Buch am Ende damit noch einen Schuss Optimismus, der die vorherige Düsterkeit ein bisschen relativiert. Die Frau findet eine Lebensperspektive, die vielleicht nicht glanzvoll ist, aber doch versöhnlich und - verglichen mit dem Vorherigen - geradezu lebensbejahend.

Ich würde alt werden und still, ich würde Tee trinken und aus dem Fenster sehen. Mein Leben würde ebenso ereignislos und unwichtig verstreichen wie das Milliarden anderer, nur würde ich darum wissen. Ich würde mich irgendwann damit trösten, dass ich wenigstens für vier Jahre erfahren hatte, wie es anders sein konnte.

Service

Sibylle Berg, "Der Mann schläft", Hanser Verlag

Hanser - Der Mann schläft