Ansicht von innen

Wie man ein Land in den Abgrund führt

Das reichste Land der Welt wollte Island werden, doch der Traum vom schnellen Geld ist ausgeträumt. Der Inselstaat ist pleite. Die Finanzkrise machte den isländischen Schriftsteller Einar Már Gudmundsson zu einem Sprachrohr der "Topfdeckel-Revolution".

Es war einige Jahre her, da fuhr Einar Már Gudmundsson mit einem Freund im Auto.

Das Radio war eingeschaltet und die Nachrichten begannen. Der Sprecher sagte etwas über die Zentralbank, sie hätten den Leitzins erhöht oder gesenkt. Mein Freund fragte: "Kannst du mir sagen, was ein Leitzins ist?" Ich überlegte eine Weile und antwortete: "Das werde ich tun, wenn du mir das Bruttosozialprodukt erklärst." Danach lachten wir beide.

Glückliches Land, dessen Einwohner sich um ihre Volkswirtschaft nicht zu kümmern brauchen - so wie man eine Lampe anknipst, ohne die Elektrizität zu verstehen, schreibt Einar Már Gudmundsson. Heute sprechen er und sein Freund über Wirtschaft wie studierte Ökonomen.

Aber: Ging nicht lange alles bestens? Von Jahr zu Jahr gab es mehr elegante Bürogebäude und schicke Villen, bulligere Geländeautos und größere Flachbildschirme, das Neueste und Beste war gerade gut genug für Island. Dann, im Oktober 2008, der Zusammenbruch. Die einen verloren seither ihre Ersparnisse, andere können Kredite nicht zurückzahlen. Die Arbeitslosenrate geht gegen zehn Prozent, für Island enorm; viele haben die Insel verlassen.

Von Banken reingelegt

Aus dem Dichter und Schriftsteller Einar Már Gudmundsson ist ein streitbarer Polemiker geworden. Als das Platzen der Blase schon absehbar war, schreibt er, holten isländische Banken sich mit hohen Zinsversprechungen frisches Kapital von gutgläubigen Sparern am Kontinent.

ICESAVE-Konten wurden eingerichtet, nachdem kein nennenswertes Geldinstitut den isländischen Banken noch Kredite einräumen wollte. Die Bank Landsbankinn eröffnete Sparkonten in England und Holland, und unglaublich viele Sparer, Privatleute wie Betriebe und Institutionen, sind ihr auf den Leim gegangen - sogar ganze Kommunen.

Milliarden verschoben

Kurz vor dem Zusammenbruch nahmen Banker noch schnell Milliarden aus den maroden Finanzinstituten, um sie in undurchschaubare Firmengeflechte zu schieben - verschwundene Gelder, für die jetzt die isländischen Steuerzahler aufkommen müssen. Und wer ist verantwortlich? Die Unternehmer und Manager, die stets im Rahmen der Gesetze gehandelt haben, wie sie betonen? Oder die Politiker?

Anstatt die Warnungen ernst zu nehmen, reisten die Minister als Public-Relations-Vertreter der Banken ins Ausland. Dort hielten sie Pressekonferenzen ab, zeigten Power-Point-Folien und Kurven. Aber sie tragen natürlich keine Verantwortung. Sie konnten die Entwicklung nicht vorhersehen, behaupten sie. Nein, sie hörten nicht auf die Warnungen, und in dieser offenkundigen Unfähigkeit liegt ihre Verantwortung.

Die Glaubwürdigkeit verloren

Einar Már Gudmundsson ist renommierter Schriftsteller seines Landes, international bekannt geworden durch den preisgekrönten Roman "Die Engel des Universums", der auch verfilmt wurde. Jahrzehntelang habe er sich kaum mit Politik beschäftigt, schreibt er. Die Finanzkrise machte ihn zu einem Sprachrohr der Protestbewegung gegen die alte Regierung, so wie seinen Berufskollegen Hallgrímur Helgason.

Vielleicht standen damit nicht zufällig zwei Schriftsteller in der ersten Reihe der sogenannten Topfdeckel-Revolution, so wie 20 Jahre davor Vaclav Havel an der Spitze der Samtenen Revolution in Prag. Hier wie dort war ein ganzes System unglaubwürdig geworden. Vertrauenswürdig schienen in Island allenfalls die Gründerväter.

Wenn wir vor dem Parlament demonstrieren, erklingen gewissermaßen alte Stimmen, so wie im Schamanismus oder bei Séancen. Nicht zuletzt spricht Jón Sigurdsson zu uns, jener Nationalheld, der den Unabhängigkeitskampf gegen Dänemark anführte. Er formte unsere Vorstellungen von Freiheit und Selbstständigkeit. Sie sind eng verwoben mit unseren Vorstellungen von der Natur, der Dichtkunst und sogar der Liebe.

Auch in Einar Márs Essay finden sich Gedichte, von ihm selbst oder Wladimir Majakowski, Zitate von Bob Dylan oder dem isländischen Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness, der manche Entwicklung schon vor 70 Jahren vorherzusehen schien.

Unschönes Sittenbild

Dieses literarische Umkreisen des Themas kann man genießen - oder ungeduldig werden, wenn man eine geradlinige Chronologie und Analyse erwartet. So oder so setzt sich ein Bild zusammen, ein unschönes Sittenbild. Personelle Verflechtungen und Geldflüsse zwischen Unternehmen und Parteien gehören dazu. Eine konservative Partei, die nach Jahrzehnten an der Regierung ihre ursprünglichen Wähler, etwa die Bauern, verraten hat. Ein sozialdemokratischer Spitzenpolitiker, der eine Immobilienfirma betrieb und dabei nichts finden konnte.

Nicht zuletzt ein Medienkonzern aus sieben Fernseh- und sieben Radiosendern sowie der größten Tageszeitung Islands, in denen kritische Fragen tunlichst unterblieben. Und noch während des finanziellen Höhenflugs Islands, in wirtschaftlich guten Zeiten, begann die Demontage des Gesundheits- und Bildungswesens.

Man strich die zahnärztliche Vorsorge im Grundschulalter, und innerhalb weniger Jahre ließ die Zahngesundheit der Schulkinder rapide nach. Die Gier verschonte nicht einmal die Zähne der Kinder. Es hätte den Neoliberalen näherliegen sollen, gesunde Gebisse als langfristige Investition zu betrachten, denn Konsumenten der Zukunft brauchen gute Zähne.

Die Zeche zahlen die anderen

Inzwischen haben die Topfdeckel der aufgebrachten Bürger und Bürgerinnen die alte Regierung zum Rücktritt gezwungen, eine neue, als integer geltende ist im Amt.

Was bleibt, gemessen an der Einwohnerzahl, vom größten Finanzdebakel der Weltgeschichte? Wird man die Verursacher zur Verantwortung ziehen können, und wollen? Werden die Auflagen des Internationalen Währungsfonds den Abbau eines ehemals vorbildlichen Sozialstaats noch verstärken? Die Zeche für den Rausch, vermutet Einar Már Gudmundsson, werden nicht die Schuldigen zahlen.

Service

Einar Már Gudmundsson, "Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin", Hanser Verlag

Hanser - Einar Már Gudmundsson