von Hamid Sadr, Teil III

Der Gedächtnissekretär

Am frühen Morgen, als ich über die Freyung eilte und gleich neben dem Brunnen die Fotos auspackte, wehte von der Kirche eine frische Brise her, und die Sonne schien. Das Pflaster war nass, die Dächer der Umgebung tauten langsam auf, und die Ruhe, die durch das Plätschern des Wassers gestört wurde, war versöhnlich wie in einem Dorf. Ich öffnete den ersten Schutzumschlag und hielt mich an seine Anweisungen. Öffnen Sie den ersten Schutzumschlag und nehmen Sie die ersten drei Fotos! Ich nahm die Fotos heraus und las: "Das Palais Harrach zeigt im ersten Stock eine heraushängende Barocktür."

Das Foto zu der Notiz zeigte ein staubiges Areal mit viel Schutt und Stein; kein Palais war darauf zu erkennen. Auch von der Barocktür war nichts zu sehen, nur ein zertrümmerter Platz in Staub und Stein. Der Morgen auf den Fotos war verstaubt und müde, die Trümmer und die Überreste von Mauern mit verkohlten Balken, Ziegelsteinen und gebogenen Trägern standen unter einer dicken Schicht Mörtelstaub.

Auffallend auf dem zweiten Foto waren Gestalten, die in Schwarz vor den Ruinen standen und zusahen, wie zwei, drei Frauen im weißen Staub Ziegelsteine aus dem Schuttberg aussortierten. Die aufgestapelten Ziegel bildeten entlang der Straße eine niedrige Mauer. Auch im Hintergrund stöberten einige Frauen in Trümmern herum. Herrn Sohalts Bemerkung: Palais Harrach zu einem Drittel zerstört, mochte zwar mit den Fotos übereinstimmen, denn auf der rechten Seite lag ein Schuttberg, aber ob ein Drittel oder die Hälfte davon zerstört war, konnte man nicht sagen.

In die Fotos vertieft, merkte ich nicht, dass das Plätschern des Wassers verstummte und die Taube, die vorher ihre Federn ins Becken getaucht hatte, wegflog; auch das Traben des Fiakerpferdes war nicht mehr zu hören. Nur das leichte Frauenlachen aus der Nähe hielt die Gegenwart noch ein wenig fest. Mit dem Durchblättern der Notizen beschäftigt, verdrängte ich die Stille, doch als ich aufblickte, war der Platz in seine Kriegstage versetzt; zertrümmert wie im Bild. Weil der Weg zum Schottenstift durch Ziegelbrocken bedeckt und nicht mehr begehbar war, machte ich einen Umweg und ging vorsichtig, als ob nichts geschehen wäre, zur Teinfaltstraße zurück.

So ging es mir bei der Besichtigung der aufgenommenen Fotos von Herrn Sohalt oft. Ich stand an einer Straßenecke, um mir das Objekt besser vorstellen zu können, betrachtete das Haus, das Geschäft oder die Brücke. Ich verglich dabei die Hausnummer, die Fensterrahmen und die Giebel mit jenen auf dem Bild, und so verkeilte sich etwas in mir, das ich zwar kaum zu sehen bekam, das aber da war.

Nun, wenn ich gefragt werde, was tun Sie eigentlich hier, in der Heil- und Pflegeanstalt Baumgartner Höhe am Steinhof, antworte ich, ich sitze auf einer Parkbank im Schatten eines Lindenbaums und sehe von dem Hügel nach unten, auf die Stadt (oder mit Herrn Sohalts Zunge gesprochen: auf unser armes Wien), die durch den Dunst von der Sonne bestrahlt wird, und denke, hätte man mich nicht durch den Verlust des Mietzimmers in der Brandmayergasse faktisch in den obdachlosen Zustand getrieben, wäre mein Bild der Stadt sicher viel besser.

Der Spiegelgrund ist ein fotofreier, kriegszeitfreier Ort, und das Leben ist aus diesem sicheren Abstand erträglicher als in Wien. Ich habe keinen Grund, mich zu beklagen: Hier ist es grün und ruhig, ich darf mich innerhalb des Geländes frei bewegen, bekomme wie jeder andere Raucher drei Zigaretten pro Tag und kann mir die restliche Ration durch Gartenarbeit (pro Tag sechzig Schilling) dazu verdienen. Das Essen ist gut, auf jeden Fall besser als in der Mensa, und die zwei Kaffeehäuser (eines oben, neben unserem Pavillon, das andere vor dem Haupteingang) stehen den Patienten (die von den geschlossenen Abteilungen ausgenommen) immer offen.

Hier unter einem schattigen Lindenbaum am Holztisch zu sitzen und den ganzen Tag, wie es mir empfohlen wurde, Notizen zu machen, ist sehr angenehm. Wie alle anderen hier zu essen oder zu plaudern, auf das Ende eines Bleistiftes zu beißen und im Heft zurück zu blättern macht zwar müde, aber langsam führt es zu einer Erleichterung, die mir im vorigen Jahr verloren gegangen war.

Als ich, des Zauderns, Zweifelns und Wartens müde, den Rucksack nahm, zum 48er Bus ging, in den Bus einstieg und hierher fuhr, war ich mir nicht so sicher, ob ich das Richtige tue. Der Portier der Heil- und Pflegeanstalt, Herr Wächter (ein netter Mensch), sah den belgischen Stahlhelm auf meinem Kopf und rief gleich Herrn Magister Egon, den Zivildiener, an. Dieser kam und war sehr freundlich und rücksichtsvoll mir gegenüber. Ich solle gleich zur Ambulanz mitgehen, sagte er, und, bevor wir den Schlafraum erreichten: ob es mir etwas ausmache, den Stahlhelm der Stationsschwester zu überlassen.

Herr Egon meint, es sei für das Vergessenkönnen sehr notwendig. Das Vergessenkönnen (so verstand ich es) wird möglich, wenn man schreibt. Nur ist die Sprache ein Problem.

Ich wollte gestern vom Flakturm in der Siebensterngasse beginnen, und die Nähe von unheimlich und Heimweh machte mir da große Probleme. Wenn ich unheimlich sagen wollte, fiel mir sogleich der Flakturm in der Stiftskaserne ein. Beim Wort Heimweh standen die Bäume meiner Heimatstadt vor mir. Wohlgemerkt, auch die Sprache beginnt, mir Schwierigkeiten zu machen.

Nur keine Panik, dachte ich, und musste, bis ich mit der Raserei im Herz und in der Lunge fertig war, abwarten.

Buch-Tipp
Hamid Sadr, "Der Gedächtnissekretär", Deuticke, ISBN 3552060065