von Hamid Sadr, Teil II

Der Gedächtnissekretär

Da Herr Sohalt unter Gicht litt, durfte ich ihm meine Beine zur Verfügung stellen. Die ersten paar Wochen bezeichnete er mich (ein wenig gönnerhaft) als seinen Sekretär und später, als ich ihn an manches, was ihm unangenehm war, erinnert hatte, als seinen Gedächtnissekretär. In regelmäßigen Abständen ging ich zu ihm und holte mir das Arbeitsmaterial, das oft aus fünf, sechs Fotos und ein paar Seiten eines Oktavheftes bestand.

Wenn das Wetter schön war, nahm ich mir mehr Zeit, ging zu Fuß und studierte nicht nur die Fotos und die Notizen, sondern auch die Stadt. Ich schaute mir die von den Trümmern befreiten Häuser und Gassen an, verglich die Gebäude auf den Fotos mit den Gebäuden in ihrem jetzigen Zustand, die Menschen auf den Fotos mit den Menschen von heute. Ich stand oft an einer Straßenecke und horchte genau hin - kein Heulton war mehr zu hören, weder ein Fliegeralarm noch eine Entwarnung; die Straßenbahnen quietschten in den Kurven, irgendwo in der Nähe bellte ein Hund und weckte die Gassen. War die Welt wieder in Ordnung?

Mit Hilfe von fünf Oktavheften und mehreren überwiegend losen, meist beidseitig beschriebenen Blättern unterschiedlichen Formats sollte ich herausfinden, wo und wann genau das jeweilige Foto aufgenommen worden war. Es gab zwischendurch auch Fotos (ihre genaue Zahl ist mir nicht bekannt), die andere Motive als Bombentreffer zum Inhalt hatten. Diese Art von Arbeitsmaterial versetzte mich viel intensiver in die damalige Zeit zurück als die Aufnahmen der beschädigten Häuser. Die Beförderung in die Vergangenheit war oft so nachhaltig, dass ich manchmal Stunden brauchte, um zurückzufinden.

Die Notiz über den im rechten Hof des Messepalastes erschossenen Wehrmachtsoffizier war mit Bleistift auf dasselbe Blatt geschrieben, auf dem Herr Sohalt seine Notiz über den Treffer auf das Deutsche Volkstheater gemacht hatte. Nachdem ich das passende Foto gefunden und beschriftet hatte, wollte ich nach Hause gehen. Ich ging aber noch durch die Höfe des Messepalastes, um im Glacisbeisel etwas zu trinken. Im Gehen las ich, wie man den Offizier durch den Hof geschleppt hatte, er kniete zweimal in der Regenlache, bevor die Russen ihm an der Ziegelsteinmauer neben der Pappel, die es an genau der Stelle noch gab, auf die Beine geholfen haben.

Ich stand neben der Pappel, und Herrn Sohalts Bemerkung, dass der Wehrmachtsoffizier seine Uniform nicht ausziehen wollte, zwang mich, diese Mauer genauer zu betrachten. Es war im Monat April, an einem Frühlingsnachmittag, und da es am Vormittag geregnet hatte, dampfte es überall. Ich stand im sonnigen Hof neben dem Baum und starrte auf die Schattenflecken, die die Pappel in leichter Bewegung auf die alten Ziegel warf.

Zu Hause schlief ich mich über das ganze Entsetzen hinweg. Herrn Sohalts Anliegen, aus den Fotos und Notizen ein Buch zu machen ("Bevor ich sterbe", sagte er), wurde langsam auch meine Angelegenheit. Sein diesbezüglicher Wunsch war schon fünfzig Jahre alt, aber konkret ausgesprochen wurde er vorerst nicht. Am Anfang tat auch ich so, als ob ich nicht wüsste, worum es ihm ging. Ich tat, was er mir sagte, denn für fünfzig Schilling pro Stunde konnte man nicht mehr erwarten.

Eines Nachmittags aber, ich kann mich an den Samstag gut erinnern - wir hatten über Vor- und Nachteile von Rollstühlen gesprochen -, deutete er an, die ganze Anstrengung solle einen Zweck erfüllen. Ich nickte. Herr Sohalt begann zuerst zögernd und dann ausführlich über seine ersten Veröffentlichungsversuche zu reden. Gleich nach dem Krieg hatte ihm ein Verleger die Vorlagen zurückgegeben, weil aus Bildern von Trümmern seiner Ansicht nach kein Buch werden konnte. Er (ein gewisser Sternig) fragte, was daran interessant sein sollte. Ein Haus neben dem anderen in Trümmern und alles im gleichen Licht, kaum Menschen, nicht einmal ein Toter. Herrn Sohalts fixe Idee, dass so ein Buch ein besonderes Andenken an Wien sein könnte, hatte er zurückgewiesen. Er belehrte Herrn Sohalt, dass aus einer Niederlage kein Buch zu machen sei, kein Mensch würde jemals in so etwas blättern wollen, geschweige denn dafür bezahlen.

Und dann? Ja, dann hat die Sekretärin, als Herr Sohalt das Material abholen wollte, ihm höflich mitgeteilt, dass das Manuskript und die Fotos im herrschenden Tumult nicht mehr zu finden seien. Herr Sohalt stand hungrig mit beiden Händen in den Hosentasche vor dem Verlagshaus. Er sah ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als die Idee, aus den Fotos und Notizen ein Buch zu machen, vorläufig auf Eis zu legen. So ging er in die Siebensterngasse zurück, warf alle Filmnegative und Notizen in eine Schachtel und trug sie auf den Dachboden.

Ein Jahr nach dem Abschluss des Staatsvertrags, 1956, hatte irgendein Bekannter nach ihm gesucht, mit der Absicht, aus den Fotos eine Auswahl zu treffen. Es war ein Jahrbuch geplant, das anlässlich der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Staatsvertragsabschlusses erscheinen sollte, Titel "Nie wieder Krieg", ein großes Projekt, wie er behauptete. Herr Sohalt ließ mit großem Aufwand erneut die Negative entwickeln und nahm sie in einer großen Schachtel zu einer Vorstandssitzung mit. Dort stellte sich heraus, dass es sich nicht um ein Buch, sondern um eine Broschüre handelte, die nicht mehr als vierzig Seiten haben sollte. Es war bereits beschlossene Sache, dass man fünf ausgesuchte Fotos verwenden würde. Um Herrn Sohalt zu beruhigen, suchte der Präsident dann noch persönlich ein Foto von der Kuppel des Kunsthistorischen Museums aus. Herr Sohalt packte beleidigt die Fotos ein und verließ die Versammlung.

Und jetzt standen wir (Herr Sohalt und ich) vor dem selben Problem wie vor fünfzig Jahren. Damals, an einem heißen Sommertag, war er im selben Wohnzimmer vor dem offenen Fenster gesessen, vom zerbombten Wien umgeben, und hatte überlegt, mit welchen Fotos sein Bildband am besten zu gestalten wäre. Nun, im Unterschied zu damals, war ich hinzugekommen, und da er wegen seiner Gicht, die er inzwischen hatte, nicht mehr gehen konnte, musste ich an seiner Stelle herumlaufen.

Buch-Tipp
Hamid Sadr, "Der Gedächtnissekretär", Deuticke, ISBN 3552060065