von Hamid Sadr, Teil I

Der Gedächtnissekretär

Zwischen Herrn Sohalt und mir existiert eine Stadt, die ich, vor Antritt meiner Arbeit für ihn, nicht gekannt hatte: Die Häuser sind (mit wenigen Ausnahmen) die gleichen geblieben, die Gassen und Plätze auch, aber (und dieses Aber ist ein merkwürdiges) ihre Farbe und ihr Klang sind anders geworden.

Obwohl ich zum Beispiel immer und vom ersten Tag an die Mondscheingasse als Durchgang zur Siebensterngasse benutzt habe, blieb ich zuletzt dort öfter stehen, sah umher, als ob ich die Gasse zum ersten Mal betreten würde, und staunte. Viele Fragen tauchten auf, und als ich in der Siebensterngasse ankam, in der Herr Sohalt wohnte, schaute ich nach oben, als könnten im nächsten Moment Granatsplitter von den Dächern fallen.

Genauso ging es mir an anderen Orten der Stadt: Der Kahlenberg zum Beispiel hat mit einem Mal aufgehört, jener Hügel zu sein, von dem aus ich die Hauptstadt immer bewundert hatte. Und der Volksgarten? Im Volksgarten bemerkte ich zwischen den Reihen der Rosenstöcke flüchtige Soldatenschatten, die mit der Waffe im Anschlag an frischen Gräbern Wache hielten und ab und zu gelangweilt zum Heldenplatz blickten, wo sich die Wiese in einen Kartoffelacker verwandelt hatte und wartende, abgemagerte Kinder von heißem Püree träumten.

So hat die Stadt des Herrn Sohalt begonnen mein Stadtbild zu verdrängen; sie hat sich, ohne dass ich es vorerst bemerkt hätte, an Stelle der früheren Stadt ausgedehnt und langsam breit gemacht. Als ich begann, in seinem Auftrag durch die Stadt zu laufen und Fotos aus dem letzten Krieg mit den Häusern und Straßen von heute zu vergleichen, ging es vorerst um Gebäude, nicht um Menschen. Ich hatte keine Ahnung, auf welches Abenteuer ich mich da eingelassen hatte und welche Überraschungen bevorstanden. Nicht nur die Häuser und die Gassen veränderten sich allmählich, sondern auch die Bewohner dieser Stadt, später sogar die Bäume und dann auch die Donau.

Die alten Schwarzweißfotos und die Notizen von Herrn Sohalt hatten die merkwürdige Eigenschaft, in meinem Kopf lebendig zu werden. In meinen Augen war Wien - ich schmeichle nicht - immer eine geduldige, freundliche Stadt. Warum sie als Stadt nicht an gewisse frühere Zeiten erinnert werden wollte und erbost dreinschaute, wenn ich mit einem Foto in der Hand in ihren Gassen und Straßen herumging oder in einem Oktavheft blätterte, verstand ich nicht. Ich hatte auch Herrn Sohalts Verhalten dieser Dame gegenüber (er bezeichnete Wien als Dame) zuerst als Schamgefühl gedeutet. Er möchte manche Hässlichkeiten dieser Stadt ein wenig vertuschen, dachte ich, und bohrte nicht nach. Auch seine Wortkargheit sah ich als stille, diskrete Haltung. Herr Sohalt, dachte ich, der alte Hobbyfotograf aus der Siebensterngasse, will ungern aussprechen, was er wirklich meint. In vielem überließ er es mittels der mir gestellten Aufgaben mir, herauszufinden, was mit dieser Stadt los war.

Ich schaue ihn stumm an. "Die Pummerin", sagt er, "sie läutet anders als alle anderen Kirchenglocken." Ich verstehe ihn nach wie vor nicht. "Der Klangunterschied", sagt er, sichtlich ein wenig von mir enttäuscht, "ist unüberhörbar. Nächstes Mal vergleichen Sie sie bitte mit den anderen Glocken. Mit denen der Michaelerkirche oder der Peterskirche. Die Pummerin klingt anders als alle anderen. Sie klingt nicht ganz deutsch, aber auch nicht ganz türkisch."

Ich notiere mir das Wort Pummerin und schaue zu Hause im Lexikon nach. Pummerin, lese ich dort, berühmte, geschichtsträchtige Glocke im Stephansdom. 1711 aus 180 türkischen Kanonen gegossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erneuert. Läutet nur zu Silvester.

Ein anderes Mal stehe ich vor der Urania, und von der Schirmspitze tropft es auf die Seite 32 des Buchplans von Wien, den ich aufgeschlagen habe, um die Straße der Julikämpfer zu finden. Dort, wo ich gerade stehe, ist nicht die Straße der Julikämpfer, dort tropft es auf den Julius-Raab-Platz. Ich habe nach der Straße der Julikämpfer gefragt und bin zum Julius-Raab-Platz geschickt worden. Dass die Leute hier statt Julikämpfer Julius-Raab-Platz zu hören meinen, hängt wahrscheinlich mit dem Vorurteil zusammen, der Fremde verwechsle oft Orts- und Straßennamen. Aber die Gasse auf dem Foto, das ich aus meiner Aktentasche nehme, ist mit dem Platz, auf dem ich stehe, nicht zu verwechseln. Auf dem Foto sieht man eine enge Gasse, die trotz der Trümmer in der Mitte, trotz der zerbrochenen Fenster und den von den Dächern hängenden Balken ganz andere Konturen zeigt als dieser Platz. Auf der Rückseite des Fotos steht (von Herrn Sohalt notiert): "Julikämpfer, 12. Februar 1944, nach einem Volltreffer."

In einem Gasthaus in der Nähe des Julius-Raab-Platzes kontrolliere ich noch einmal die Notizen. In einem Oktavheft hat Herr Sohalt nach jeder Aufnahme das Datum notiert, danach den Ort der Aufnahme. 12. Februar 44, lese ich, Julikämpfer. Und weiter: "Am 12. Februar 44 Alarm. Brandbomben. Ich sehe, wie die Leute in Richtung Flakturm laufen. Eine Brandbombe fällt auf die Fahrbahn. Einige versuchen, die Bombe mit Sand zu bedecken. Vergeblich. Ein Regen von Flaksplittern. Blau-grauer Phosphor." Der Rest ist nicht lesbar.

Flakturm? Ich schlage den Stadtplan auf: Wo sind die Flaktürme? Einen davon kenne ich schon, er steht im Hof der Stiftskaserne, in der Nähe der Siebensterngasse. Ich erinnere mich genau daran, wie ich im Haus Nr. 16 im vierten Stock war. Der Flakturm beobachtete mich durch das Fenster des Wohnzimmers.

Ich bestelle Gulaschsuppe und Bier und starre beim Wegtrinken des Schaums in den Regen nach draußen. Der Regen wäscht den Schmutz von den Straßen. Ich bin unfähig, die anderen Flaktürme auf der Karte zu finden.

Zwei oder drei Tage später sitze ich in Herrn Sohalts Wohnzimmer und trinke Tee. Ich zeige ihm das Foto und sage, dass es in Wien keine Straße der Julikämpfer gibt. Der Name existiert nicht. "Der Name vielleicht nicht", sagt er, "aber die Straße schon." "Und wo?" will ich wissen. Er steht langsam auf und geht zum Fenster.

Er schiebt den Vorhang zur Seite und zeigt mit dem Kinn nach unten. "Da! Man hat sie wegen der Turnhalle dort in Straße der Julikämpfer umbenannt. Das war schon nach dem Dollfußmord." "Und warum heißt die Straße dann nicht Dollfußstraße?" Er sieht mich an und geht pfeifend in die Küche.

Buch-Tipp
Hamid Sadr, "Der Gedächtnissekretär", Deuticke, ISBN 3552060065