Zu viele Wirkungen

03. Zu viele Medikamente

Ältere Patienten brauchen oft viele Arzneimittel. Statistisch gesehen nimmt jeder Mensch ab dem 60. Lebensjahr im Durchschnitt drei rezeptpflichtige und fast ebenso viele apothekenpflichtige Arzneimittel ein. Jeder Dritte zwischen 75 und 85 Jahren bekommt sogar mehr als acht Arzneimittel verordnet. Das führt nicht nur zu zahlreichen arzneimittelbezogenen Problemen, sondern belastet auch das Gesundheitssystem.

Die Anwendung von fünf oder mehr Arzneimitteln gleichzeitig wird als Polymedikation, Multimedikation oder Polypharmazie bezeichnet. Die Hauptursache für Polymedikation liegt darin, dass ältere Patienten meist an mehreren chronischen Erkrankungen leiden, die dauerhaft mit Arzneimitteln behandelt werden. Ein weiteres Problem ist die vor allem bei hochbetagten Menschen oft verminderte Kommunikationsfähigkeit. Viele Patienten sind nicht in der Lage, ihre Symptome präzise zu schildern, was zu ungenauen Diagnosen und unklaren Indikationen führen kann.

Zudem werden unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) häufig nicht als solche erkannt, sondern als neue Erkrankung gewertet und mit einem weiteren Arzneimittel behandelt. Dieses kann dann wiederum UAW hervorrufen. Lange „Verschreibungskaskaden“ sind die Folge.

Aktuelle Studie aus Salzburg
Nicht alle der wachsenden Ausgaben für alte Menschen sind deshalb nötig und gerechtfertigt. Salzburger Mediziner und Wissenschafter haben die Medikation älterer Patienten untersucht und bei mehr als 36 Prozent von ihnen verzichtbare Medikamente gefunden, weitere 30 Prozent waren für alte Menschen schlicht inadäquat. Im Durchschnitt nahmen die Patienten bis zu elf verschiedene Arzneimittel gleichzeitig.
Rechnet man diese Zahlen hoch auf die gesamten Medikamentenausgaben der Krankenkassen würden sich damit mehr als 400 Millionen Euro pro Jahr einsparen lassen. Und es wären Einsparungen, die sogar die Gesundheit der Menschen verbessern würden. Nicht selten sind Medikamente, die meist an jungen, fitten Patienten getestet werden, für alte Menschen ungeeignet. Gleichzeitig führt die Polypharmakologie, also die größere Zahl verschiedener Medikamente, die ältere Menschen benötigen, zu Wechselwirkungen, die auch nachteilige Folgen haben können.

"Unerwünschte Wirkungen" nehmen im Alter zu
Insgesamt haben ältere Patienten laut deutschen Untersuchungen ein höheres Risiko, durch Arzneimittel geschädigt zu werden, als junge Patienten. Dies hängt sowohl von endogenen Faktoren, die den physiologischen und psychologischen Alterungsprozess betreffen, als auch von exogenen Faktoren der Versorgung ab. Die Konsequenzen können allerdings verheerend sein. So wurde in einer australischen Untersuchung festgestellt, dass 30 Prozent aller Krankenhauseinweisungen der über 75-Jährigen auf unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) zurückzuführen waren. Die Autoren geben an, dass mehr als die Hälfte der UAE vermeidbar gewesen wären.

Beispiele für "Verschreibungskaskaden" in der Praxis
Ein Beispiel für eine Medikamentenkaskade ist etwa die Cholinesterasehemmer-Anticholinergikum-Kaskade. Cholinesterasehemmer wie Donepezil, Galantamin oder Rivastigmin werden oft bei Demenzsymptomen verschrieben. Durch ihre Wirkung auf das autonome Nervensystem können sie eine Dranginkontinenz fördern. Gleichzeitig kann eine neu auftretende oder sich verschlechternde Inkontinenz aber auch Teil des natürlichen Verlaufs der Demenz sein. Da bleibt Platz für ärztliche Missverständnisse, wenn die Harnwegssymptomatik nicht als Arzneimittelnebenwirkung erkannt wird: Die Inkontinenz wird mit einem Anticholinergikum behandelt, anstatt dass die Dosis des Cholinesterasehemmers reduziert oder dieser ganz abgesetzt wird. Diese Kombinationsbehandlung kann zudem noch den erwünschten Effekt des Cholinesterasehemmers teilweise oder ganz zunichte machen.

Krank durch Fehldiagnosen

Ein Krankenkassenfunktionär schildert die Entwicklung in der Praxis so: Sein Schwiegervater ist 78 Jahre alt, fit, spielt gerne Karten und hat nur ein Problem, das dem Schwiegersohn auffällt: Er zappelt seit einiger Zeit unruhig mit den Beinen. Der Schwiegersohn und die Tochter sind besorgt, und tatsächlich lautet der erste Befund einer Untersuchung auf eine beginnende Parkinson-Erkrankung. Ein zweiter hinzugezogener Bekannter der Familie schließt das allerdings aus. Obwohl die Ärzte keinen wirklichen Grund für das Zappeln finden, hat der Patient nach einigen Untersuchungen zumindest fünf verschiedene Medikamente zu nehmen, ein blutdrucksenkendes Mittel, ein Schlafmittel und Psychopharmaka.

Nach nur zehn Tagen ist er komplett verwirrt, kann beim sonst so geliebten Kartenspiel nicht einmal die Karten unterscheiden und baut komplett ab. Diagnose des Hausarztes: Eine Demenz kann auch sehr schnell kommen. Erst als der Schwiegersohn nach Rücksprache mit anderen Ärzten beginnt, die Medikamente wieder abzusetzen, normalisiert sich die Situation. Die Schlussfolgerung des Kassenfunktionärs: "Das System ist krank in sich. Es macht Menschen krank."

"Wenn ein älterer Patient nicht zufällig jemanden habe, der sich die Zeit nehme genauer zu beobachten, was mit ihm passiere und die Zeit habe mit Ärzten zu reden, sei der alte Mensch schneller als Demenzpatient in einem Pflegeheim, als man schauen könne", ärgert er sich.

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