Der zweite Roman von Richard Obermayr
Das Fenster
Irgendwann in den 1970ern. Ein Schuss fällt. Wie, warum und ob der Schuss ins Schwarze trifft, lässt der Autor offen. Richard Obermayrs Text bietet eine neue Definition von Wirklichkeit und eine überzeugende Kunstfertigkeit der Sprache.
8. April 2017, 21:58
Die Schreibkrise
Ganze zwölf Jahre ist es her, da legte der 1970 geborene Richard Obermayr mit seinem Buch "Der gefälschte Himmel" eines der furiosesten Debüts der österreichischen Literatur vor. Eine gelungene Probe auf die Möglichkeiten des Schreibens, vorgetragen in einer atemberaubend kunstvollen Sprache, die ihre Evidenzen jenseits des literarischen Mainstreams suchte und dort eine neue und überzeugende literarische Welt fand. Die Kritik war begeistert und hoffte auf mehr – ein Wunsch, der sich zunächst nicht erfüllte.
Dem glanzvollen Erstling, der den hohen Ton nicht scheute, folgte ein tiefer Fall. Zu groß schienen Obermayrs Ansprüche an sich selbst und sein literarisches Talent zu sein, als dass sie ohne weiteres in ein Nachfolgebuch gesteckt werden konnten. Jahrelang hat der Autor nur noch Anfänge geschrieben. Beinahe alles schien ihm ein Anlass fürs Schreiben zu sein, ohne dass sich im Wust der Manuskripte eine Richtung ausnehmen ließ, die zwischen zwei Buchdeckel passte.
Eine tiefe Krise erfasste den Autor während dieser langen (buchlosen) Zeit, die jedoch keine Schreibkrise war, zumindest nicht eine im herkömmlichen Sinn, sondern eher ihr Gegenteil: Denn nicht das Nicht-Schreiben war ja Obermayrs Problem, sondern die Zügellosigkeit seines Schreibens. Denn mit seinem Schreiben steht dem Autor offenbar ein Instrumentarium zur Verfügung, das sich auf alles anwenden lässt, was ihn umgibt, und in das alles einfließt.
Keine Einbettung der Ereignisse
Jenseits dieses uferlosen Schreibens, das in Wahrheit eine Existenzform ist, gibt es bei Richard Obermayer jetzt aber doch wieder ein Buch - und die sensibleren Teile der Kritik und der Leserschaft, nur so viel vorneweg, werden sich freuen. "Das Fenster" heißt der 250 Seiten umfassende Text vielleicht auch deshalb, weil er einen Blick freigibt auf einen eher umzirkelten Teil von Obermayrs Existenz.
Irgendwann ist in der Kindheit, die der Autor in Schwanenstadt verbracht hat, ein Schuss gefallen. Wie, warum und unter welchen konkreten Begleitumständen lässt der Autor offen, denn die Chronologie des Geschehens, die Soziologie der Figuren oder auch die Einbettung der Ereignisse in einen größeren Geschichtszusammenhang, eben die 1970er Jahre in der oberösterreichischen Provinz, interessiert ihn nicht.
Allegorien des Schreibens
Dass dieser Ansatz, der das Gängige so zielgenau umgeht, Obermayrs Buch nicht unbedingt zu einem der ganz heißen Kandidaten für den Deutschen Buchpreis macht, wird man verschmerzen. Als Trost bleiben die schillernden Funde, die man in dem Buch macht: glanzvolle Passagen, in denen die Sprache sich über die Erfahrungswelt legt und Wirklichkeit neu aus sich hervorbringt. Allegorien des Schreibens, die in ihrer Kunstfertigkeit ohne Vergleich sind.
Nicht umsonst spielt in Obermayrs Buch der Zirkus eine so zentrale Rolle. Ein Zirkus der Kindheit, der damals in Schwanenstadt Station gemacht hat. Davon, dass eine Gruppe von Artisten über Jahre hinweg ein Kunststück probt, ist an einer Stelle von "Das Fenster" die Rede. Nur noch eine einzige Bewegung, die letzte und schwierigste, fehlt, um den Akt perfekt zu machen. Wenn sie gelingt, ist das Ganze gelungen und der Betrachter, der in diesem Fall der Erzähler ist, kann nicht mehr anders: Die Artisten haben ihn, und er kommt nicht mehr von ihnen los.
Die beste Form
Auf einem vergleichbaren Perfektionsanspruch beruht Obermayrs Schreiben. Nie gibt er sich mit dem zweitbesten Ausdruck zufrieden. Immer ist, wie er es sagt, die beste Form, in der es gesagt werden kann. Für den Leser wird so schon nach wenigen Seiten klar sein: Er kann diesem Buch quasi blind vertrauen. Nichts schlägt hier aus der Bahn, nichts stört, nichts hebt sich ab, an keiner Stelle droht das Gesamtgebäude zu wanken.
Bleibt die Frage, was in diesem perfekten Bauwerk eigentlich das Thema ist, aber das Thema ist hier eigentlich mehr eine These: Alles hat mit der Mutter zu tun (die irgendwann einmal eine Pistole in die Hand nahm), alles hat mit dem Vater zu tun (der einmal weg und einmal da war) und alles hat mit dem Haus zu tun, in dem das Kind aufwuchs. Wer Fotos braucht, um sich diese Umgebung vorstellen zu können, findet eines auf dem Cover des Buches und ein paar andere auf der Homepage des Autors.
Arbeit an der Erinnerung
Der Schuss, dieses frühe Trauma, knallt durch den Text und wird in ihm durch Schreibarbeit immer leiser, ohne jedoch ganz zu verhallen. Verstanden als eine Arbeit an der Erinnerung könnte Literatur nicht leistungsfähiger sein. Richard Obermayr greift in seinem Buch das Vergangene auf und verbindet es mit einer lebendigen Gegenwart. Beides verbleibt dabei in seinen komplexen Rechten, denn nicht eine Abrechnung nimmt der Autor vor, sondern eine Beschreibung, die letztlich von großer Zuneigung zeugt.
Als ein "Paradies der Müdigkeit" bezeichnet Obermayr seine Kindheit bereits in der vierten Zeile des Buches. Am Ende von "Das Fenster" ist klar, wer allein ein solches Paradies konnte entstehen lassen. Ein hellwacher Autor, der mit diesem Buch einen ungewöhnlich hohen Standard setzt.
Service
Richard Obermayr, "Das Fenster", Jung und Jung Verlag
Richard Obermayr
Jung und Jung - Das Fenster