Roman von Ulrike Draesner

Vorliebe

Jeder der Protagonisten in "Vorliebe" ist für sich ein kleiner Egoist, der seine Umwelt nach seinen eigenen Wünschen, Vorstellungen und Sehnsüchten formen möchte. Ein größeres Ganze kommt dabei nicht heraus - daher auch keine Liebe, sondern nur Vor-Liebe.

Liebe im Zeitalter der Astrophysik

Ulrike Draesner ist eine Autorin, die über den Tellerrand des persönlich Erlebten hinaus blickt. In ihren Romanen, Erzählungen und Gedichten merkt man, dass sie sich für Philosophie, Sprachwissenschaft, Mathematik und Physik interessiert. Da kann leicht der Vorwurf entstehen, Draesner sei eine poeta docta, eine gelehrte Autorin, die Gelehrsamkeit über die Kunst des Erzählens stellt. Wer Draesners neuen Roman "Vorliebe" liest, wird diese Bedenken fahren lassen. Dabei ist das Thema eindeutig, eindeutig modern: Es geht um den Wunsch nach Liebe - im Zeitalter der Astrophysik.

Die Einsamkeit im All

Harriet hatte sich selbst überzeugt: die nicht manipulierten Messwerte aus dem Kosmos, dieses weitreichende und noch immer so kleine Fischen, das die Menschheit dort oben in der Schwärze der Strahlenwelt, im Reich der Gifte und Spiegelkräfte betrieb, setzte sich nicht "wie von selbst" zu grauen Bildwolken und verzerrten Konturen zusammen.
Die nicht gesäuberten Computerzeichnungen hatten etwas Schreckliches. Als sehe man, für Sekunden, durch die Maske eines viel größeren, mehrdimensionalen Wesens. Es war mechanisch, überlegen, unendlich kalt. Etwas fehlte. Während man schaute, war einem, als kippe man sich selbst zu den Augen hinaus.


Die Hauptperson Harriet ist mit Leib und Seele Physikerin. Und sie will hoch hinaus, nämlich mit einer Raumfähre ins All. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie unter den vielen - meist männlichen - Kandidaten ausgewählt wird. Harriet, Anfang vierzig, ist physisch wie psychisch in Topform, zudem erfahren. Und doch nagt da ein Zweifel in ihr. Ist die bemannte Raumfahrt nicht bloß ein Versuchslabor, in dem man die Menschen bis an die Grenze der Belastbarkeit testet? Sind die Ergebnisse, die man aus dem All mitbringt, wirklich so großartig, so sensationell, wie man sie den Medien und potenziellen Sponsoren verkauft? Und wer spricht von dem "Schrecklichen", von der Einsamkeit, die der Mensch verspürt, wenn er seinen professionellen Blick durchs All gleiten lässt?

Die Mühlräder der Liebe

Harriet zweifelt, greift immer wieder zu einer Zigarette, raucht hektisch. Sie bricht bewusst mit der gängigen Moral, die besagt: Du sollst deine Gesundheit nicht gefährden. Doch dann kommt die Liebe ins Spiel und Harriet übertritt ein tatsächliches Gebot: Du sollst nicht die Ehe brechen. Allerdings wird hier ein Klischee bemüht, nämlich, dass auch eine erfolgreiche und aufgeklärte Frau wie Harriet unter die Mühlräder der Liebe geraten kann. Nur: Dieses Klischee könnte ein wohl kalkuliertes sein. Ulrike Draesner sieht es so:

"Bei Harriet ist es vielleicht am Greifbarsten. Am Anfang als sie sich als 15-Jährige in diesen um 20 Jahre älteren Mann verliebt hat, da gibt es Reibungspunkte mit der Gesellschaft. (...) Niemand betrachtet das als die richtige Konstellation. (...) Da gibt es noch sozusagen eine Kantigkeit und Eckigkeit. Als wir sie dann wieder treffen, zwanzig Jahre später, ist das an der Oberfläche abgerieben. Sie hat sich eingefügt, sie spürt aber dieses Eingefügtsein gar nicht mehr. Und das ist der wesentliche Punkt, der entscheidende Prozess, der dann beginnt."

Patchworks

Man könnte sagen, im Roman "Vorliebe" richten sich alle Beteiligten in von der Gesellschaft akzeptierten Klischees ein. Harriet lebt mit dem Briten Ash zusammen, er ist Ingenieur für Luftfahrt und bringt einen Sohn aus erster Ehe mit in die Beziehung. Das ergibt eine für heutige Verhältnisse "klassische" Patchwork-Familie.

Auf der anderen Seite lernt man Peter kennen, er ist verheiratet mit Maria, gemeinsam haben sie einen Sohn. Peter ist evangelischer Pfarrer, er kennt sich in der Bibel gut aus, doch um seinen eigenen Glauben ist es eher schlecht bestellt. Ja, so einen Priester kann man sich ohne Probleme vorstellen - er passt perfekt in die von den Medien dargestellte Gegenwart.

Aufgrund eines Autounfalls begegnet nun Harriet ihrer einstigen Jugendliebe Peter wieder. Und was damals der 16-jährige Teenager mit dem rund zwanzig Jahre älteren Man nicht realisieren konnte, soll nun Wirklichkeit werden: ein Fest der Liebe. Dabei ist die Physikerin Harriet der aktive Teil, wie eine Raumfahrerin umkreist sie Peter, bis dieser ihren Avancen erliegt.

Durchdachte Handlungen

Natürlich gibt man sich aufgeklärt - sowohl Ash als auch Peters Frau Maria wissen von der Liaison. Doch dann, gegen Ende des Romans, stirbt Peter. Sein Herz war für diese Liebe nicht stark genug. Aber stimmt das? Ist denn die Beziehung zwischen Harriet und Peter je ekstatisch, unvernünftig gewesen, so dass sie dachten, man könne alles hinter sich zurück lassen?

Nein. Durchdacht waren ihre Handlungen, stets blieb man vernünftig. Keine Liebe, die alles ins Wanken bringt, war das gewesen, sondern eine Art "Vor-Liebe", die aber zumindest Harriett ins Reich der Romantik und des Traums zurückführt.

Sie lehnte sich ins Fenster und rauchte hinaus. Ha, wie heimlich! Peters allerletzter Satz ging ihr durch den Kopf. Er hatte recht, sie waren Fossile, nicht zynisch, nicht einmal richtig ironisch; romantische Träumer waren sie, Theologe und Physikerin. In ihre Fächer schienen die Träume gekrochen zu sein. Als letztes Refugium. Dort, wo garantiert nichts auf eine E-Mail antwortete.

Ausblenden, was nicht ins Konzept passt

Die vielen Anspielungen auf die Naturwissenschaften und auch der Umstand, dass sich mit der Zeit Ash und Maria zumindest geistig näher kommen, rücken Draesners Roman in die Nähe zu Goethes "Wahlverwandschaften". Goethe wollte zeigen, dass die von Menschen geschaffenen Sitten und Morallehren dort versagen, wo das Gesetz der Natur sein Recht mit Härte einfordert. Bei Draesner steht nicht nur der Glaube an die Liebe und an göttliches Wirken auf tönernen Füßen, sondern auch der Glaube an die Wahrhaftigkeit der Naturgesetze - zumindest was die Astrophysik betrifft.

Ulrike Draesner zitiert zweimal einen bekannten Satz des Novalis: "Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft" - und sie persifliert ihn damit. Denn jeder der Protagonisten im Roman - allen voran Harriet - ist für sich ein kleiner egoistischer Gesellschaftsträger, der die Gesellschaft, seine Umwelt, nach seinen eigenen Wünschen, Vorstellungen und Sehnsüchten formen möchte. Ein größeres Ganze kommt dabei nicht heraus - daher auch keine Liebe, sondern nur Vor-Liebe.

"Ich hatte mal als alternativen Titel für diesen Roman 'Die Liebesegoisten' im Kopf", sagt Draesner. "Und das trifft das ganz genau. Jeder ist dann schon fast in einer autistischen Blase und macht sich die Welt zurecht und macht große Fehler, weil andere Dinge nicht wahrgenommen werden, die eigentlich offensichtlich sind und die der andere auch versucht, zum Beispiel Harriet zu erzählen. Aber weil das nicht in ihr Liebeskonzept passt, wird das einfach ausgeblendet. (...) Und so kreiselt jede dieser vier Hauptfiguren wie ein kleiner Planet um sich herum und versucht, die anderen immer zu Monden zu machen. Die wollen aber nicht Mond sein, sondern die wollen Dich als ihren Mond nehmen. Du sollst für sie aufgehen und sie beleuchten."

Teil der "Erdenblödigkeit"

Ohne Pathos, sondern mit spielerischer Leichtigkeit - in der auch manchmal experimentelle Sprachtöne anklingen - zeigt Ulrike Draesner in ihrem neuen Roman "Vorliebe" den Status quo einer aufgeklärten, individualisierten Gesellschaft. Die Anklage entfällt, niemals wirkt Draesners Sprache belehrend. Nur in den Zwischentönen ist eine leise Klage hörbar. Beklagt wird der Mangel an Liebesfähigkeit, an Hingabe, und der Mangel an Glauben.

Man mag das im Zeitalter der Astrophysik veraltet finden, doch das Verharren in der "Vorliebe" kann nicht das Ziel des Strebens und des Lebens sein. Wer sich in gesellschaftlichen Klischees wohlig einrichtet und auch noch glaubt, innerhalb des vorgegebenen Rahmens frei zu agieren, der ist Teil von Ulrike Draesners "Erdenblödigkeit". Genau das zeigt der Roman "Vorliebe" auf glasklare Weise.

Service

Ulrike Draesner, "Vorliebe", Luchterhand