Eine Stadt im Umbruch

Pristina

Zwei Drittel der Bevölkerung von Pristina, Hauptstadt des Kosovo, ist unter 30 Jahre alt. Wirtschaftliche Entwicklung und eine Sozialpolitik fehlen noch völlig. Dennoch herrscht hier nicht der Trübsinn vor, denn "alles bewegt sich, alles kocht".

Für die meisten EU-Länder, Balkan-Länder und für die USA ist Pristina seit 2008 Hauptstadt des souveränen Staates Kosovo und damit Europas jüngste Hauptstadt. Für Serbien, Russland und für fünf EU-Staaten ist Pristina noch eine Stadt unter dem Protektorat der UNO und im Staat Serbien.

Etwa 300.000 Menschen leben in Pristina; zwei Drittel von ihnen sind unter 30. Ein Land der EU haben die meisten von ihnen noch nie gesehen. Wirtschaftliche Entwicklung, gängige internationale Marken, Reisefreiheit für die vielen jungen Leute - all das fehlt in dieser Stadt. Weiters fehlen: ein Fluss, Gehsteige für die Passanten, ausreichend Wasser und Strom, eine Sozialpolitik.

Lernen im Wohnzimmer

"Wir hassen und wir lieben diese Stadt", konstatiert Rozafa Basha, die in den 1990er Jahren wegen des serbischen Polizeiregimes im Untergrund Architektur studierte. Doch wie nur lernt man es, Häuser und Städte zu gestalten, wenn man die eigene Stadt kaum benützen darf, wenn Schule und Uni in privaten Wohnzimmern stattfinden? Indem man träumt, sagt Basha.

"Wir erlebten, wie unsere Eltern - hochausgebildete Leute - in den 1990er Jahren ihre Jobs und ihren ganzen Besitz verloren", erzählt Kaltrina Krasniqi, eine Filmemacherin. Normale Städte würden von Eltern oder Großeltern erbaut; nach den Wirren der vergangenen 20 Jahre aber müsse Pristina von den Kindern errichtet werden.

Alles bewegt sich

Wird dieses Pristina dennoch ein "touristischer Ort" werden, wie es die Sängerin Irina Karamarkovic auf ihrer neuen CD prophezeit?

Für die Jungunternehmer und Rückkehrer ist das denkbar. "Pristina hat so viel Armut und Arbeitslosigkeit. Man möchte meinen, alles hier wäre ruhig und depressiv. Aber nein, alles bewegt sich, alles kocht. Die Tage vergehen schnell, man hat nie Zeit", erzählt Genc Salihu begeistert. Er kehrte als Musiker aus London zurück und betreibt jetzt mit Freunden einen Buchladen.

"Pristina hat viel Energie und gute Leute. Nur, leider fehlen seit zehn Jahren die Serben", meint Bersant Rizaj, Besitzer des Spray-Clubs für elektronische Musik. Rizaj bezieht sich auf die Massenabwanderung und Vertreibung der Serben nach dem Ende der NATO-Intervention 1999.

Nichts fliegt zu

"Wir reden hier von jungen, energetischen Menschen, die arbeiten wollen. Denn die Unabhängigkeit zerstäubte unsere Erwartung, dass uns Dinge einfach zufliegen würden", sagt Akan Ismaili. Er hat die Telekommunikations-Firma Ipko hochgezogen und mehr als 400 Mitarbeiter angestellt.

"Die Leute zeigten mir den Vogel. Du gehst von New York zurück nach P-r-i-s-t-i-n-a?", erzählt die Modeschöpferin Krenare Rugova. Ein Stipendium erlaubte ihr das Studium an der renommierten Parsons Design Schule in New York. Jetzt betreibt sie ihr Studio und eine Fabrik in Pristina. Ihr Motto: "Mode ist eine Art der freien Meinungsäußerung."

Pristinas Identität wird eilig festgezurrt: möglichst westlich und kapitalistisch soll sie sein, meinen die meisten kosovarischen Regierungsmitglieder und die Kapitalgeber für etliche Großprojekte. Eine Kathedrale, ein Opernhaus, ein World Trade Center, ein privates Luxusdorf namens "International Village" werden fertiggestellt. Ist hier eine kollektive Illusion im Spiel? Zeugt die atemlose Großbaustelle vom Realitätsverlust in Europas Visa-Ghetto?

Fast ein Lego-Dorf

Immerhin gleicht Pristina vom Flugzeug aus einem unfertigen Lego-Dorf. Da sind die identen Rohbauten ganzer Familienverbände in die Landschaft gewürfelt, noch bevor Strom oder Wasser verlegt sind. Da krallen sich Baggerschaufeln und Kräne den Beton neuer Wohnblöcke und neuer Straßen, daneben türmen sich Erde und Schutt. Die Luft wiegt schwer; sie riecht nach verbranntem Müll, nach feucht verbranntem Ofenholz und nach schlechtem Benzin.

Der eklektische Baustil, das Durcheinander von Glas, Kunststoff und Beton, von Wellen und Kanten, Farben und Konturen, repräsentiere "die Idee von Europa", so Kaltrina Krasniqi. Sie präzisiert: "Die Idee von Europa von jemandem, der nie das Recht besessen hat, dort hinzugehen." In einem Song der lokalen Formation por-no heißt es, "Flugzeuge kommen und gehen. Wir leben immer noch in Pristina. Vielleicht ist es besser, dass die anderen nicht davon wissen."

Text: Verena Ringler

Service

Gail Warrander und Verena Knaus, Reiseführer "Kosovo", Bradt Guides 2007

CD Irina Karamarkovic Band, "Songs from Kosovo", erhältlich über ihre Homepage

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