Italiens literarische Wiedergeburt nach 1943
Der Geist von Turin
Was der Suhrkamp-Verlag für die deutschsprachige Welt, das ist Einaudi für Italien. Gegründet wurde der Verlag im Turin der 1930er Jahre - mitten im Faschismus. Maike Albath zeichnet jetzt in einem Buch die wechselhafte Geschichte des Verlages und ihrer Gründer nach.
8. April 2017, 21:58
Inseln des Andersdenkens
Mit seinen Buchserien prägte der Verlag Einaudi über 50 Jahre lang die ästhetischen und philosophischen Debatten in Italien. Carlo und Primo Levi, Leone und Natalia Ginzburg, Cesare Pavese und Italo Calvino - sie alle waren Einaudi-Autoren. Hemingway, Proust, Levi-Strauss, C.G. Jung, Adorno und Roland Barthes wurden erst durch Einaudi in Italien bekannt.
Der Verlag gilt als Bollwerk gegen Sprachverschleiß und Kulturverlust. Seinen Anfang nahm Einaudi nicht zufällig im piemontesischen Turin, im Schatten der Fabriken von Fiat und Olivetti, meint die deutsche Literaturkritikerin und Autorin Maike Albath:
"In den 1930er Jahren war Turin ein Ort, an dem eine etwas andere Atmosphäre geherrscht hat als in vielen anderen italienischen Städten. Denn in Turin gab es große liberale Tradition - es gab mitten im Faschismus Inseln des Andersdenkens oder des Widerstands."
Idealistische Ziele
Maike Albath, eine profunde Kennerin der italienischen Literatur, setzt in "Der Geist von Turin" die Gründer des Verlages in den Mittelpunkt, die in Mussolinis Italien Verbannung und Gefängnis auf sich nahmen, um ihre Vision umzusetzen. Die Gründer, das waren Leone Ginzburg, der kosmopolitische Kopf der Gruppe, Cesare Pavese, der melancholische Literat, und der Verleger Giulio Einaudi, der die klügsten Köpfe des Landes um sich zu scharen wusste.
"Das waren drei junge Leute, die etwas auf die Beine stellen wollten, die sich nicht zufrieden geben wollten mit dieser lähmenden Atmosphäre, die das faschistische Regime dann über ganz Italien verbreitet hat", so Albath. "Die haben es geschafft - und das bewundere ich sehr -, dass sie die Kraft hatten und auch diese innere Freiheit, sich dagegen zu stellen und keine Kompromisse zu machen."
"Frei und respektlos"
Maike Albath begleitet den Verlag durch Faschismus, Krieg und Widerstand, erzählt von der Ermordung Leone Ginzburgs im von den Nationalsozialisten eroberten Rom und vom Freitod Cesare Paveses am Höhepunkt seiner Karriere. Pavese prägte nicht nur als Autor das literarische Verlagsprogramm:
"Pavese war nicht nur ein herausragender Schriftsteller, sondern auch jemand, der ein großes Gespür hatte für den literarischen Wert anderer Autoren", sagt Albath, "und er war gleichzeitig ein hervorragender Lektor: Wie er die Homer-Übersetzungen redigiert hat, wie er auf den Rhythmus geachtet hat, wie er in der Lage war, auch ganz streng von berühmten Professoren und Intellektuellen einzufordern, Einleitungen zu schreiben, die verständlich waren."
Die drei Gründer seien sehr auf das Publikum gerichtet gewesen, unglaublich lebendig und auch frei dadurch, manchmal auch etwas respektlos, so Albath.
Kulturelle Strahlkraft nach 1945
Aus dem Einaudi-Verlag kam nach 1945 jene Aufbruchsstimmung, die das Klima intellektueller Freiheit in Italien wesentlich prägte. Das Turiner Verlagshaus entwickelte sich zum geistigen Zentrum der Nation. Man habe gewusst, dass der Verlag für etwas anderes stehe und eine andere Linie vertrete, sagt Albath, und deshalb hätten sich viele junge Intellektuelle von ihm angezogen gefühlt - nach 1945 habe der Verlag eine kulturelle Strahlkraft entwickelt, die ungeheuerlich gewesen sei.
Legendär sind die Mittwochssitzungen, zu denen jeder anreiste, der in der Literatur und Wissenschaft Rang und Namen hatte. Die französischen Strukturalisten, Vertreter der Frankfurter Schule - Einaudi machte ihre Ideen in Italien bekannt. Auch der von den Verlagsautoren propagierte literarische Stil bedeutete eine kleine Revolution.
"Sie haben ja auch eine Erneuerung der Sprache, des Erzählstils betrieben, weil sie auf ganz alltägliche Themen gekommen sind und weil sie sich befreit haben von diesem sehr abgehobenen hochstilisiertem Erzählen, das in Italien eine große Tradition hat", sagt Albath.
Weltliteratur und Volksbildung
Für Maike Albath war es die Zeit der Utopien: Nicht nur gute Literatur wollte man verlegen, junge Autoren und in Italien noch unentdeckte Werke der Weltliteratur bekannt machen, sondern auch im Bereich der Volksbildung wirken.
Einaudi-Bücher sollten für jeden erschwinglich sein. Das sei auch im Zuge der der großen Bildungsoffensive gewesen, sagt Albath, denn zu jener Zeit hätten im Süden Italiens und in Mittelitalien die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen können. So habe Calvino das Projekt verfolgt, die italienischen Märchen neu zu erzählen, und das seien die Scheitelpunkte der italienischen Literatur in der Nachkriegszeit gewesen, denn er habe es geschafft habe, ein Kulturgut aufzubereiten und verfügbar zu machen, ohne folkloristisch zu sein, sagt Albath.
Reiche Tradition, verblasste Ziele?
Gegenüber den Gesetzen des Marktes verhielt sich Verleger Giulio Einaudi - wie er selbst meinte - "etwas hochmütig". Ende der 1980er Jahre geriet der Verlag deshalb in wirtschaftliche Turbulenzen. Mittlerweile gehört Einaudi ausgerechnet zum Medienimperium Silvio Berlusconis.
"Die haben natürlich ein eindrucksvolles Programm, eine eindrucksvolle Backlist, weil sie so eine reiche Tradition haben und noch viel erhalten geblieben ist", sagt Albath. "Aber die ursprüngliche Idee, immer gegen den Zeitgeist zu agieren und eine kritische Position innezuhaben, die scheint ins Hintertreffen geraten zu sein."
Um die Verlagsgeschichte zu rekonstruieren, hat Maike Albath zahlreiche der noch lebenden Akteure rund um Einaudi persönlich aufgesucht - die Gespräche sind im Buch nachzulesen. Neben den ausführlichen Biografien der Verlagsgründer und prominentesten Lektoren bietet "Der Geist von Turin" auch eine profunde und leidenschaftliche Einführung in die italienische Geistesgeschichte - ein Buch, dessen Lektüre auch für Nichtkenner italienischer Literatur lohnenswert ist.
Service
Maike Albath, "Der Geist von Turin. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943", Berenberg Verlag
Berenberg Verlag