Faschismus und die italienische Erinnerungskultur

Viva Mussolini

Dass die Politik unter Silvio Berlusconi apolitisch wurde, haben schon viele Kommentatoren aufgezeigt. Für Aram Mattioli kam es im Italien unter Berlusconi zu einer Aufwertung des Faschismus und zu einer Neuinterpretation der italienischen Geschichte.

Die unbeachtete Aufwertung

Aram Mattioli schreibt für die Zeit und die Süddeutsche Zeitung und lehrt an der Universität Luzern Neueste Geschichte. Der 1961 geborene Schweizer Historiker beschäftigte sich intensiv mit dem italienischen Faschismus, mit dem Feldzug Italiens gegen Abessinien und mit Architekturgeschichte und Städtebaugeschichte des faschistischen Italien.

Über die Gleichschaltung der Medien, den laxen Umgang des Ministerpräsidenten mit Gesetzen und die Entpolitisierung der Politik unter Silvio Berlusconi wurde schon viel geschrieben. Weitgehend vom Ausland unbemerkt, befindet Aram Mattioli, kam es in Italien in den letzten Jahren aber auch zu einer Aufwertung des Faschismus. Diesen Prozess beschreibt Aram Mattioli in seinem Buch "Viva Mussolini".

Ein Bruch mit der Tradition

Als am Abend des 26. Jänner 1994 Silvio Berlusconi im Fernsehen seinen Einstieg in die Politik verkündete, da war das auf mehreren Ebenen ein Bruch mit der Tradition. Kein Parteichef hatte sich in Italien zuvor jemals per Videobotschaft über neun Minuten lang direkt ans Wahlvolk gewandt. Viele Beobachter sehen darin den ersten Schritt hin zu einer Telekratie. Zu einer Gesellschaft, in der die Macht nicht mehr vom Volke ausgeht, sondern von den Fernsehkanälen. Und der, der das Fernsehen beherrscht, beherrscht auch die Politik.

Der Medienmogul Berlusconi ist dafür das beste Beispiel. Mit seinen Fernsehsendern, mit seinen medialen Aufritten und seiner Partei, die er nach einem Fußballanfeuerungsruf "Forza Italia" nannte, führte Berlusconi eine Kulturrevolution herbei. Der altmodischen und gemächlichen italienischen Lebenswelt wurde ein Schuss amerikanische Kommerzkultur injiziert.

In der neuen Kommerzwelt prägten zunehmend Markenkleider, Handys, Fernsehshows mit leicht gekleideten Tanzgirls, Soaps, Fußball und billige Urlaubsreisen den Lebensstil. In Berlusconis Welt besetzt der apolitische Konsument die Hauptrolle, der die Politik erfolgreichen Unternehmern wie ihm überlässt.

Gründungsmythos der Republik

Die Eliminierung des Politischen aus der Politik ist aber nur ein Ergebnis der Veränderung der italienischen Gesellschaft unter Berlusconi. Im Ausland weitgehend unbeachtet ist laut Aram Mattioli noch etwas anders geschehen: Es kam zu einer Aufwertung des Faschismus und einer Neuinterpretation der italienischen Geschichte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand der Gründungsmythos der jungen Republik darin, die faschistische Diktatur aus eigener Kraft überwunden und das Land mit der Waffe in der Hand selbst befreit zu haben. Jahrzehntelang definierte sich Italien als eine aus dem Widerstand geborene Republik.

Nirgendwo in Westeuropa besaß der antifaschistische Legitimitätsglaube ein solideres Fundament.

"Antifaschistische Meistererzählung" nennt Mattioli diesen Mythos. Diese Meistererzählung trug dazu bei, das Volk über Schicht- und Milieuzugehörigkeit zu einen - und die Neofaschisten und Duce-Nostalgiker an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Für Nicht-Italiener mag es ein wenig verwunderlich wirken, dass ein Volk, das sich als erstes zum Faschismus bekannte, sein Selbstverständnis daraus ableitete, anti-faschistisch zu sein.

Die Zeit zwischen 1922 und 1943 wurde aus dem kollektiven Bewusstsein ganz einfach ausgeblendet, erklärt Mattioli. Italiens Geschichte schien erst mit dem 25. Juli 1943 zu beginnen - mit dem Sturz Benito Mussolinis. Unter "Befreiung" verstand man nach 1945 den Sieg über die deutschen Besatzer, nicht so sehr die Überwindung der faschistischen Diktatur.

Wo es fast nur Widerstandskämpfer gab, konnte die eigene Tätervergangenheit nicht wirklich in den Blick geraten.

Akzeptierte Rehabilitation?

In den 1980er Jahren begann die italienische Abneigung gegen den Faschismus mehr und mehr zu bröckeln. Schon 1975 hatte der berühmte Historiker Renzo de Felice behauptet, die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Faschismus seien "enorm groß gewesen". Es habe sich um "zwei Welten, zwei Traditionen, zwei Nationialgeschichten" gehandelt, die man nicht unter einem Blickwinkel betrachten könne. Das war das erste Mal, dass ein seriöser Historiker den Faschismus öffentlich rehabilitierte.

Zu dieser Zeit wurde auch die neofaschistische Partie MSI - Movimento Sociale Italiano - mehr und mehr akzeptiert. War die Partei vorher bloß ein Sammelbecken für Altfaschisten und Nostalgiker, so schaffte es Gianfranco Fini, der sie 1987 übernahm, sie mehr und mehr ins Zentrum zu rücken. Die MSI heißt heute Alleanza Nationale und will nicht mehr mit den deutschen Republikanern und der französischen Front National in einem Atemzug genannt werden.

"Kalkulierte Tabubrüche"

Es gebe doch überhaupt keine Faschisten in seiner Regierung, erklärte Berlusconi im Juni 1994, wenige Wochen, nachdem er die Neofaschisten von Gianfranco Fini und die Lega Nord von Umberto Bossi erstmals zu Regierungsparteien und damit endgültig salonfähig gemacht hatte.

Es sei das einer der vielen "kalkulierten Tabubrüche" in Bezug auf den Faschismus gewesen, konstatiert Aram Mattioli. Denn der mächtigste Mann Italiens hatte nie Berührungsängste gegenüber den Rechten.

Während des Wahlkampfes 2006 kam es bei Berlusconis Auftritten vor, dass Zuhörer aus Begeisterung in "Duce, Duce!"-Rufe fielen und ihm gar mit gerecktem Arm die Ehre erwiesen. Bezeichnenderweise trat er solchem Treiben nie entgegen und sah darin nie ein Problem.

Aram Mattioli hat mit seinem Buch eine lesenswerte Abhandlung über die italienische Erinnerungskultur abgeliefert. Er zeigt, wie die Erinnerung an den Faschismus bereits früh politisch instrumentalisiert wurde und beleuchtet, wie der regierende Medienmogul das Land grundlegend verändert hat. Sein Buch ist nicht immer leicht lesbar, es ist aber eine erhellende Lektüre über eine Gesellschaft, die vielen Beobachtern mehr und mehr Rätsel aufgibt.

Service

Erik Gandini, "Videocracy", Sonntag, 4. Juli 2010, 23:00 Uhr, ORF 2

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Aram Mattioli, "Viva Mussolini. Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis", Verlag Ferdinand Schöningh

Ferdinand Schöningh