Ungeheuer in Kinderfantasie und -büchern

Das Monster unter dem Bett

Kein Ungeheuer ist wie das andere - die große Macht der Fantasie, bei diesem Thema manifestiert sie sich: Der Menschen wird zur Quelle seiner schlimmsten Ängste. Doch ist die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit gezogen, hört der Spuk im Kinderkopf auf.

Entwicklung der Phantasie

Sich vor bösen Geistern fürchten, vor Monstern im Bett und Ungeheuern im Kasten, die den Körper verschlingen, das Selbst in ein Nichts reißen wollen - typisch Kind, oder nicht? "Es ist so, dass Kinder ungefähr mit vier Jahren ihre Phantasie entwickeln", sagt Entwicklungspsychologin Brigitte Rollett. "Natürlich gibt's das vorher auch schon, aber in der Zeit machen sie sich alle möglichen Gedanken über grauenhafte Monster und so weiter. Das heißt, es ist fast ein Entwicklungszeitraum, wo man das erwarten kann."

Das Kind erweitert seine Grenzen. Wenn Grenzen verschwimmen oder noch nicht aufgebaut sind, kann Vertrautes umschlagen in sein Gegenteil und unheimlich werden. Brigitte Rollett hilft Kindern, die ihre Ungeheuer nicht zähmen können.

Kein Ungeheuer wie das andere

"Das Kind stellt sich vor, 'unter meinem Bett liegt ein böser Geist'", so Rollett, "na entsetzlich, da muss man mühsam mit dem Kind arbeiten. Der Geist ist nicht da, er darf nicht rein, er kann nicht rein und wenn alle Stricke reißen, dann zeichnen wir ihn einmal und dann zerreißen wir das Papier oder verbrennen es und damit ist der Geist auch weg."

Für jedes Kind muss sie sich etwas Neues ausdenken; kein Ungeheuer ist wie das andere und nicht jedes Kind hadert mit Schreckgestalten. Die große Macht der Fantasie - bei diesem Thema manifestiert sie sich. Sie macht den Menschen selbst zur Quelle seiner schlimmsten Ängste, in ihr liegt auch die erlösende Kraft, um mit der Angst umzugehen. Ist die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit gezogen, hört der Spuk im Kinderkopf auf.

Angst bedingt Freiheit

Was den Erwachsenen bleibt, ist vielleicht die Sehnsucht nach dem Wunderbaren, vielleicht das Schaudern im Keller, im Wald in der Nacht, oder der heimliche Blick jeden Abend unter das Kopfkissen - aber man lernt, darüber nicht zu sprechen.

"Es gibt angeborene Ängste, die schon bei Säuglingen auftreten", sagt Rollett. "Das ist zum Beispiel die Angst vor Dunkelheit und die Angst vor schnellen Bewegungen. Deswegen haben so viele Leute Angst vor Mäusen oder Spinnen."

Zu diesen, einst evolutionsgeschichtlich sinnvollen Ängsten kommen noch einige entwicklungsbedingte hinzu. Angst, formulierte der Philosoph Sören Kierkegaard, sei nur vor dem Hintergrund von Freiheit möglich. Und C.G. Jung beschrieb das Kindsein und Heranwachsen so: "Kind bedeutet, etwas zur Selbstständigkeit Erwachsenes. Es kann nicht werden ohne Loslösung vom Ursprung: Die Verlassenheit ist daher notwendige Bedingung, nicht nur Begleiterscheinung."

Um das Verlassen, Verlassen Sein und Verlassen Werden drehen sich auch die Ängste, die Kinder in ihrer Entwicklung erleben: Angst vor dem Verlust von Körperkontakt, Angst vor dem Fremden, Trennungs- und Vernichtungsangst, Angst vor dem Tod.

Schrecken in Kinderliteratur

"Ich würde meinen, es gibt eine Menge Ungeheuer in den Kinderbüchern, die die Idee des Todes in sich tragen, die Idee der Sterblichkeit", sagt der Autor, Film- und Literaturwissenschaftler Thomas Ballhausen. "Sterblichkeit und die Thematisierung von Sterblichkeit anhand eines Wesens, das sich einer Norm, einem klassischen Erklärungsmodell entzieht - das ist ein großer Unterschied."

Es besteht ein Unterschied zwischen den Ungeheuern der Kinder und der Kinderliteratur und jenen der Erwachsenen - die Ängste bleiben jedoch gleich. "Das ist etwas, was dem Ungeheuer eine andere Dimension geben kann, abseits von Haaren, Klauen und einem Grinsen mit üblen Zähnen", sagt Ballhausen, "Aber die Monster, die uns Erwachsene heimsuchen, haben andere Schärfen."

Der Reiz des Ungeheuers

Das Ungeheuer ist die Idee von Freiheit und Macht: Es gibt nichts, was es tun muss, es gibt nichts, was es nicht tun darf. Im Ungeheuer wird die Spannung zwischen Erziehern und zu Erziehenden deutlich, wie in keiner anderen literarischen Figur. Wird das Monster zu mächtig, ist es verführerisch zu sagen: Lieber selbst das Ungeheuer sein, als ihm erliegen. "Das ist ein unglaublicher Reiz der da drin steckt", meint Ballhausen. "Die Frage ist nur, wie gehen wir damit um? Bleiben wir ein Ungeheuer? Wofür entscheiden wir uns? Das ist etwas, was in der Literatur reflektiert wird."

Das Ungeheuer ist die ideale Projektionsfläche; für Freud waren die Schreckgestalten Symbole für darunterliegende, emotionelle - bei ihm hieß es libidinöse - Konflikte. Für C.G. Jung sind es ererbte Ängste, Archetypen, wie die Angst vor dem Tod, die hier repräsentiert werden, Schattenseiten der Persönlichkeit, mit denen sich ein Mensch auseinandersetzen muss.

Bedrohung als Antrieb

Die Kinderliteratur bietet, ebenso wie der Film, eine überraschend große Bandbreite an Ungeheuern. Schutzgespenster und Untertanen, Freunde, Gefährten und nützliche Helfer, aber auch Ungeheuer als diffuse, alles durchdringende Bedrohung, am schrecklichsten dann, wenn man sie nicht sieht, wie etwa der böse Lord Voldemort in "Harry Potter". Nicht zu vergessen: Die, die sich nicht unter dem Bett verstecken müssen, sondern darauf sitzen - die schlimmsten, die Menschen.

Das Ungeheuer ist auch ein Mittel zum Zweck: Monster macht Money, Ungeheuer macht Umsatz. Ohne ist eine Geschichte doch langweilig: Erst das Monster lässt den Helden zur Tat schreiten, seine Schrecklichkeit bestimmt die Anerkennung.

Der richtige Umgang

Wer seine Ängste bewältigt, und in die eigene Kraft vertrauen kann, hat viel gewonnen. Erwachsene sind Kindern dabei nicht unbedingt behilflich. Statt sich konstruktiv mit den Ängsten der Kleinen auseinanderzusetzen, sehen sie sich nicht selten von der kindlichen Fantasie überfordert, wollen die Ängste ihrer Kinder lösen und führen eine Tauglichkeitsdebatte darüber, ob Ungeheuer sich nun eignen oder nicht.

Für eine gesunde Entwicklung sei das nicht ideal, sagt Brigitte Rollet, und den Ungeheuern geschehe Unrecht, sagt Thomas Ballhausen. "Den Monstern und Ungeheuern muss man ihr Recht lassen", so Ballhausen, "die darf man nicht auf ein 'die haben eine Funktion und damit ist es das' beschränken. Die Ungeheuer können etwas mehr und deshalb sind sie so beliebt."