Roman von Alain Claude Sulzer
Zur falschen Zeit
Ist es so spät oder so früh? Die Zeiger der Armbanduhr auf dem Foto weisen auf viertel nach sieben. Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, um zum Fotografen zu gehen, ganz gleich, ob es nun sieben Uhr abends ist oder sieben Uhr Früh. Oft genug hat der Ich-Erzähler das Bild seines toten Vaters betrachtet. Doch eines Tages bleibt sein Blick an der Uhr hängen.
8. April 2017, 21:58
Was hatte seinen Vater dazu bewogen, sich zu einer solch ungewöhnlichen Tageszeit fotografieren zu lassen? Und wer war eigentlich der Mann oder die Frau hinter der Linse? Auf der Rückseite des Fotos findet sich ein Stempel. André Gros, Paris, 9. Arrondissement. Ein Freund vielleicht, oder vielleicht jemand, der seinem Vater besonders nahe gestanden ist? Ein Gedanke nur. Er lässt den Erzähler nicht mehr los. Plötzlich findet er sich in einer fremden Biografie wieder, die nach und nach zu einem Teil seiner selbst wird.
Blinde Flecken
"Zur falschen Zeit" nennt Alain Claude Sulzer seinen jüngsten Roman, eine ungewöhnliche Vater-Sohn-Geschichte. Familiengeheimnisse - das ist ein weites Thema. Die blinden Flecken auf den inneren Landkarten sind oft schmerzhaft schwer zu erkunden.
Der Ich-Erzähler ist siebzehn, als er sich aufmacht, das Rätsel um seinen Vater Emil zu lösen. Er sei jung gestorben, hat ihm seine Mutter erzählt. Mehr aber auch nicht. Sie redet nicht gern über ihre erste Ehe. Einmal, da ist ihr Sohn zehn oder elf, hat sie ihn zur Seite genommen und ihm gestanden, dass sich sein Vater kurz nach seiner Geburt umgebracht hat. Es interessiert ihn nicht weiter. Erst die Armbanduhr macht ihn wirklich neugierig.
Er reist nach Paris und spricht mit André, dem Fotografen. Zuhause zurück blättert er in der örtlichen Bibliothek durch die Zeitungen und entdeckt die Todesanzeige: Emil Ott, gestorben am 15. August 1954. Nichts, was auf den Selbstmord schließen ließe. Direkt daneben eine weitere Anzeige. Sebastian Enz, noch keine 25 Jahre alt auch er. Wie und warum ist nun dieser Sebastian umgekommen? Kann es sein, dass er und Emil Ott sich gekannt haben?
Emil und Sebastian
Alain Claude Sulzer spielt mit unseren Erwartungen, ohne dabei kokett zu werden. Der Roman führt vor, in welch seelischer Bedrängnis Emil zeitlebens gesteckt ist. Männer zu lieben, das ist Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein Dilemma, das zerrüttet. Nun könnte ein Sujet wie dieses sensationslüstern daherkommen. Nicht bei Alain Claude Sulzer. Seine Sprache bleibt reduziert und klar, die Ereignisse, die sich nach und nach enthüllen, stehen im Widerspruch zur kontrollierten Erzählweise. Das schafft Spannung.
Schritt für Schritt rückt der Erzähler seinem Vater näher. Emils erste große Liebe und die Erkenntnis, dass er Männer begehrt, führt schließlich zu einem nervlichen Zusammenbruch. Er landet gleich mehrmals in der Psychiatrie. Umso mehr staunt er, dass er sich dann doch noch für eine Frau interessiert, Veronika. Er heiratet sie. Die Schwiegertochter ist hoch willkommen, der Wunsch nach einem Enkelkind wird immer dringlicher.
Eine mehrwöchige Urlaubsreise nach Südfrankreich soll die Eheleute noch enger aneinanderschmieden. Emil überlässt sich den Plänen seiner Frau, er fügt sich den Reiserouten und Lebenslinien, die sie vorzeichnet. Und das, obwohl er weiß, dass die Zweisamkeit immer auch die Lüge in sich bergen würde.
Die Ferien am Meer werden zur Tortur: Während Veronika im Sand liegt, schreibt Emil leidenschaftliche Briefe an eben jenen Mann, den er kurz vor der Abreise kennen gelernt hat. Ein Kollege, Lehrer wie er, ein klein wenig jünger, vielleicht auch kompromissloser als er. Eines Tages steht dieser Sebastian, wie er heißt, am Strand. Kein Zufall, dass er sich sogar im selben Hotel einquartiert hat wie das junge Ehepaar. Veronika ahnt nicht, wo ihr Mann unterschlüpft, wenn er Schlaflosigkeit vortäuscht.
Entscheidung für die Konvention
Der nach außen hin untadelige Gatte verliert sich in einem Doppelleben. Eine Reise nach Paris, die er seiner Frau abgetrotzt hat, wird für Emil und Sebastian zur Selbsterfahrung. André, der als Alibi herhalten muss, hat die Flucht geschafft, er lebt seine Sexualität und sucht die beiden Freunde in einem ähnlichen Entschluss zu bestärken. Emil aber traut sich nicht. Er entscheidet sich einmal mehr für die Familie, für die Konvention. Am Tag der Heimreise trennt er sich von Sebastian – um dann doch wieder zu ihm zurückzukehren.
Sulzers Roman, dessen Inhalt nach Herz und Schmerz klingt, bleibt am Boden. Er zieht langsam dahin, lässt den Dingen ihren Lauf, ohne sie aufzubauschen. Die Figuren bekommen feine Konturen. Alle stehen neben sich.
Emils Eltern sind ratlos, der Psychiater überfordert, die Ehefrau fassungslos und verletzt. Sebastians Mutter wiederum fährt schwere Geschütze auf, als sie Emil der Verführung ihres Sohnes bezichtigt und ihn bedroht. Ihr Brief wird für beide Männer zum Trauma. Es gibt eben kein richtiges Leben zum falschen Zeitpunkt.
Den eigenen Weg finden
Alain Claude Sulzer hält sich zurück. Kein moralisch erhobener Zeigefinger, keine Lamentationen. Der Roman beschreibt die Ereignisse und spart dabei deren Interpretation aus. Auf diese Weise entstehen jene Erzählräume, in denen sich das bornierte Klima jener Tage immer neu spiegelt.
Es habe mehr als drei Jahrzehnte gedauert, ehe es ihm gelungen sei, nochmals auf sich selbst und die Ereignisse um das Auffinden der Uhr zurückzuschauen, bekennt der Erzähler. Und gerade das Wissen um diese verschiedenen Zeitebenen macht den Roman so dicht. Da gibt es einerseits die 1950er Jahre mit ihrer restriktiven, bis ins Zerstörerische hinein wütenden Sexualmoral, da gibt es die späten 60er und frühen 70er Jahre, da die Dogmen zögernd aufbrechen, und das Heute. Manches ist anders geworden, doch längst nicht alles ganz leicht.
"Man kann sich über vieles hinwegsetzen, vor allem über die Blicke der anderen", hört der Erzähler von André, dem Fotografen. Man müsse nur verstehen, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Alain Claude Sulzers Roman ist ein subtiles, unaufgeregtes Plädoyer dafür, seinen eigenen Weg zu finden. Wo auch immer er dann verlaufen mag.
Service
Alain Claude Sulzer, "Zur falschen Zeit", Galiani Verlag
Galiani - Zur falschen Zeit