Debütroman von Andreas Bernard

Vorn

Von Tobias Lehnerts Zeit bei einem gefeierten Jugendmagazin, von einem Journalismus, der eine Form des Schreibens mit einer Art zu leben verbindet, vom Erfolg im Beruf und Scheitern in der Liebe - davon handelt Andreas Bernards stark autobiografischer Roman mit dem knappen Titel "Vorn".

Überdruss, Unbehagen, Ratlosigkeit. Wenn Tobias Lehnert darüber nachdenkt, wie es mit ihm weitergehen soll nach dem Abschluss des Studiums, beschleichen ihn triste Gefühle. Unzufrieden sitzt er in der kleinen Küche seines Ein-Zimmer-Appartments, schreibt alte Telefonnummern in einen neuen Notizblock - und kommt nicht weiter.

Die Tage drohen "nun endgütig auszufransen". Da fällt ihm die "Jugendbeilage" einer Tageszeitung in die Hand, ein Magazin mit dem Namen "Vorn", das ziemlich angesagt ist und auch Tobias immer liest. Das aktuelle "Vorn"-Heft aber ist ein Besonderes, es geht um das Thema "Liebe", um die Sprache der Liebespaare, und Tobias ist perplex.

Er hatte den Eindruck, dass hier sein eigenes Leben beschrieben wurde, Rituale und Sehnsüchte, die er von sich allzu gut kannte.

Tobias beschließt, der Redaktion einen Besuch abzustatten - und bald wird aus dem "Vorn"-Leser ein "Vorn"-Schreiber.

Trends setzen

"Es gab damals, Mitte/Ende der 90er Jahre, in der die Romanhandlung angesiedelt ist, den Ausdruck, etwas ist 'ganz weit vorn'", erklärt Andreas Bernard, der Autor. "Das war damals etwas sehr Erstrebenswertes, dass man ganz vorn dran ist - oder, dass etwas ganz vorn ist. Das war das Bewusstsein, im Schreiben etwas Neues aufzuspüren, neue Schreibweisen zu entwickeln. Also so eine bestimmte Art, die Ich-Form einzusetzen, das randständige Thema in den Mittelpunkt zu rücken. Damals gab es schon ein großes Bewusstsein der eigenen Avantgarde."

Auch Andreas Bernard war "vorn". Denn "Vorn" ist das fiktive Spiegelbild von "jetzt", dem ehemaligen Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, und Bernard war, genau wie Lehnert, von 1995 bis '98 Autor und Redakteur des Magazins. In "jetzt", erschienen von 1993 bis 2002, schrieben Autoren wie Rebecca Casati, Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre, und viele von ihnen dürften sich in "Vorn" wiedererkennen: einem Magazin, das Trends nicht nur besprach, sondern setzte, das sich durch eine "große Einmütigkeit unter den Mitarbeitern" auszeichnete (wie es über das "jetzt"-Porträt "Vorn" im Roman heißt) und eine "flirrende, immer ein wenig aufgeputschte Stimmung", durch "die Nähe (...) zum alltäglichen Leben der Leser" und nicht zuletzt durch eine rigorose Haltung, die das Urteil über Filme, Mode und Popsongs genauso bestimmte wie das Urteil über Menschen.

"Dieses Magazin 'Vorn' ist ja ein Magazin, das sich nicht spezialisiert auf ein bestimmtes Genre - Musik, Mode oder Politik", so Bernard. "Sondern es beschreibt ja alles - für eher junge Leser, Leser unter 30. Und alle Artikel in dem Magazin vereint so eine Unerbittlichkeit der Haltung: Was man gut findet, was schlecht, was man einschließt, was man ausschließt. Also es ist eine sehr homogene und sehr unerbittliche Anschauung, die sich in diesem Magazin formiert."

Die Welt mit neuen Augen sehen

Schnörkellos und geradlinig erzählt Andreas Bernard von einem jungen Mann und seiner Ankunft in der "richtigen Welt", wie Tobias Lehnert meint, seinem Eintritt in die und seinem Einswerden mit der Welt von "Vorn". Tobias schreibt viel und mit viel Erfolg, über Themen wie das unglaubwürdige Flipperspiel von Ethan Hawke in "Before Sunrise", erlebt das unerschütterliche Selbstbewusstsein seiner Redaktionskollegen und sieht die Welt - und das ist in diesem Falle München - mit neuen Augen.

Wer bei "Vorn" ist, kennt sich aus mit Bands, Filmen, Restaurants und Modeläden, wer bei "Vorn" ist, fährt mit dem Taxi durch die Stadt, verkehrt in Szenebars und wird von den Kellnern mit Vornamen angesprochen. Wer bei "Vorn" ist, ist arriviert, wird bewundert und spürt "fast ein erhabenes Grundgefühl". Er trägt zu Anzügen von Helmut Lang New-Balance-Turnschuhe und trinkt nicht Milchkaffee, sondern Espresso.

"Es wird im Roman beschrieben, wie jemand im Ästhetischen, im Modischen, im Popkulturellen so eine Art von Kehrtwendung macht oder in eine ganz neue Richtung gebracht wird", so Bernard. "Der Modegeschmack des Protagonisten ändert sich, der Musikgeschmack wird in Frage gestellt, weil die Musik, die er hört, in der Redaktion nicht so angesehen ist. Und es ist auf jeden Fall so, dass dieses Magazin eine Sogkraft entwickelt, die das ganze ästhetische System von jemandem in eine neue Richtung bringen kann."

Leben für die Zeitschrift

"Vorn"-Leute, heißt es, sind "in ständiger Aufnahmebereitschaft" für ihr Heft, sie unterscheiden nicht zwischen Beruflichem und Privatem und verwandeln, wie Tobias, ihr Leben mehr und mehr "in potenzielles Material" für das Magazin. Man will die Stadt "rocken", die Mädchen "scannen" und nimmt die Welt durch ein Raster wahr, man typologisiert und kategorisiert, erstellt Listen und gefällt sich im "speedtalk". Anschaulich, aber ein bisschen zu breit und behäbig, beschreibt Bernard das Lebensgefühl einer jungen Redaktion in den 1990ern - und einen Mitläufer, dem dieser Kosmos, der bei aller "coolness" auch eitel, selbstverliebt und letztlich hermetisch war, lange Zeit nicht obsolet wurde. Dabei steht er doch in krassem Gegensatz zu jener Welt, die Tobias' langjährige Freundin Emily verkörpert.

Emily ist zurückhaltend und bodenständig, nicht trendbewusst und alles andere als glamourös - und damit der Widerspruch zu dem Frauentyp, den das Magazin favorisiert. Tobias nimmt die Entfremdung von Emily hin, er verliebt sich in eine Praktikantin, die dem von ihm mitkreierten Mädchenbild entspricht, doch erst, als er von Emily getrennt und die junge Liebe am Ende ist, begreift er, was passiert ist: dass er sein altes Leben, seine inneren Überzeugungen verraten hat.

"Eine Eigenschaft von so einem beruflichen Milieu, das von Erfolg und einem gewissen Glamour geprägt ist, ist die Ausschließlichkeit", sagt Bernard, "dass so eine Arbeitssphäre so zusammenschweißt und auch so eine Selbstfeier bedeutet, dass niemand anderes mehr zugelassen ist. Wenn dann doch mal die Freundin mitkommt, die was ganz anderes macht und die nicht eingeweiht ist in die unendlich feinen sprachlichen Codes, dass das ein unglaubliches Problem sein kann."

Zwei Sphären

Mit einem Mal wird Tobias bewusst, "im Widerspruch gelebt zu haben, in zwei unvereinbaren Sphären": der Emily-Welt mit ihrer Geborgenheit und der "Vorn"-Welt mit ihrer Euphorie und Flüchtigkeit. "Die ganze Ordnung seiner Überzeugungen und Abneigungen war eingestürzt", heißt es. Von einem Riss ist die Rede, von Schock, Spaltung, Übertretung. "Tobias traute seiner Lebensgeschichte nicht mehr", schreibt Bernard.

"'Übertretung' heißt, dass der Protagonist, dieser Tobias, in dem Moment, wo er seine langjährige Freundin verlassen hat, wo er plötzlich nichts mehr für den Menschen empfindet, der jahrelang der wichtigste in seinem Leben war, dass er dann komplett alles in Frage stellt", erklärt Bernard. "Dass er in Frage stellt, wie er dazu kommen konnte, sich von Emily zu entfernen, neue Turnschuhe anzuziehen, neue Musik zu hören, neue Orte zu besuchen... 'Übertretung' erschien mir als passender Begriff, das zu beschreiben."

Beobachten und resümieren

Mit dem Eintritt in die "Vorn"-Redaktion Mitte der 1990er Jahre beginnt der Roman, mit Tobias' Austritt drei Jahre später endet er. Bernards Held hat seine Unbefangenheit, vielleicht kann man auch sagen, seine Unschuld verloren, er kann sich nicht mehr mit dem, was er gelebt und geschrieben hat, identifizieren.

"Vorn" ist ein Roman, der ganz eng bei seiner Hauptfigur bleibt und doch stets ein fast distanziertes Rekapitulieren, ein analysierendes Beobachten und Resümieren bewahrt. Bernard erliegt nie der Gefahr einer Lifestyle-Schelte, einer plumpen Satire über arrogante Yuppies, dazu ist er zu vorsichtig, selbstkritisch und verhalten im Erzählton. Aber etwas mehr Direktheit und Elan hätte ihm nicht geschadet - diesem durchaus unterhaltsamen, nicht nur für Journalisten lesenswerten Romandebüt über die Schwierigkeit, sich selbst treu und trotzdem ganz vorn zu bleiben.

Service

Andreas Bernard, "Vorn", Aufbau Verlag

Aufbau Verlag - Vorn