Die erste Rückkehr von Armeniern nach Ostanatolien
Wiedersehen in Van
Seit einigen Jahren weitet Regierung von Ministerpräsident Erdogan die Religionsfreiheit der christlichen Minderheiten in der Türkei langsam wieder aus. Und so werden an diesem Wochenende tausende Armenier aus aller Welt im ostanatolischen Van erwartet.
8. April 2017, 21:58
Gottesdienste an historischen Orten
Die Religionsfreiheit der christlichen Minderheiten in der Türkei ist seit Gründung der Türkische Republik arg beschränkt. Erst seit einigen Jahren weitet die selbst islamisch-religiös inspirierte Regierung von Ministerpräsident Erdogan sie langsam wieder aus. Nach einem griechisch-orthodoxen Gottesdienst im historischen Kloster Sümela an der Schwarzmeerküste im August genehmigte Ankara nun auch einen armenischen Gottesdienst in der Heilig-Kreuz-Kirche im ostanatolischen Van, das einst ein Zentrum armenischen Lebens war.
Erstmals seit ihrer Vertreibung aus Ostanatolien werden tausende Armenier am Sonntag eine Messe in der Heilig-Kreuz-Kirche feiern - den ersten armenischen Gottesdienst in der Stadt seit fast einhundert Jahren. Im untergehenden osmanischen Reich stellte die armenische Volksgruppe fast die Hälfte der Bevölkerung von Van, seit den Massakern von 1915 gibt es dort keine Armenier mehr.
"Öffnet eure Häuser"
"Wir können derzeit 5.213 armenische Besucher in privaten Gästezimmern unterbringen, so viele Betten haben die Bewohner von Van bisher angemeldet", erklärt Aziz Aykac, Chefredakteur der Lokalzeitung "Sehrivan". "Weil die Hotelbetten der Stadt längst ausgebucht sind, hat unsere Zeitung diese Kampagne gestartet und die Bevölkerung aufgerufen, den Armeniern ihre Häuser zu öffnen. Mehr als tausend Familien haben sich darauf gemeldet und diese Plätze angeboten. Die Leute wetteifern geradezu darum, sie willkommen zu heißen."
Auch im Gouverneursamt von Van laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Gouverneur Münir Karaloglu, ein Vertrauter von Ministerpräsident Erdogan und seit einem Jahr als Statthalter Ankaras in Van, hat die Genehmigung für den Gottesdienst von der Regierung erwirkt und organisiert auch die Unterbringung.
"Wir haben alle Beamtenwohnheime für die Gäste frei gemacht. Wenn das nicht reicht, werden wir auch die Studentenwohnheime nutzen, um die Besucher unterzubringen", sagt Karaloglu. "Und wenn das auch nicht reicht, dann greifen wir auf die privaten Gästezimmer zurück, die tausende Einwohner auf den Appell der Lokalpresse hin angeboten haben."
Dass die Bevölkerung von Van so enthusiastisch auf den Besuch reagiert, überrascht den Gouverneur nicht. "Ich wusste, dass die Bevölkerung dieser Stadt keine Ressentiments hat", erklärt Karaloglu. "Es gab natürlich anfangs Kritiker, die vor Protesten gewarnt haben, aber das ist nicht eingetreten, im Gegenteil: Die Leute wollen zeigen, dass sie die Ereignisse der Geschichte hinter sich lassen wollen."
Normalisierung der Beziehungen möglich?
Die Ereignisse der Geschichte: Damit ist der armenische Aufstand von Van im April 1915 gemeint, als russische Truppen von Osten her auf das osmanische Reich vorrückten und armenische Partisanen sich auf ihre Seite schlugen. Der Aufstand, obgleich blutig niedergeschlagen, lieferte der osmanischen Regierung den Vorwand zur Vertreibung der Armenier aus ganz Anatolien; hunderttausende Angehörige dieser Minderheit wurden dabei massakriert.
Bis heute unterhalten Armenien und die Türkei keine diplomatischen Beziehungen, die Grenze zwischen den beiden Ländern ist geschlossen. Das müsse sich ändern, sagt Gouverneur Karaloglu: "Wir wollen, dass die Beziehungen aus dem Kühlschrank kommen. Dieses Ereignis zeigt doch, dass es die politischen Probleme, über die so viel geredet wird, zwischen den Völkern eigentlich nicht gibt. Vielleicht kann ja dann der Druck von unten zu einer Normalisierung der Beziehungen führen, denken wir. Hoffentlich kann dieses Ereignis einen Anlass dazu bieten."
Initiative per Facebook
So pragmatisch und realpolitisch will Mustafa Aladag, der eigentliche Initiator der Willkommenskampagne, seine Initative gar nicht verstanden wissen. Auf Facebook hatte der beleibte Rechtsanwalt den ersten Aufruf gestartet, die Armenier in Van willkommen zu heißen.
Die Facebook-Gruppe hat heute an die tausend Mitglieder und eine ganz präzise Intention, wie Aladag erklärt: "Das Gouverneursamt und die Behörden unterstützen die Kampagne zwar, aber unsere Motive sind verschieden. Die Behörden sehen das als eine Art Tourismuskampagne, sie wollen die Stadt in einem positiven Licht zeigen. Wir aber, meine Freunde und ich, wir haben diese Initiative ergriffen, um fast hundert Jahre nach dem Völkermord zu bekunden, wie leid es uns tut, dass das geschehen ist und dass unsere Vorfahren das getan haben."
Anders als die meisten seiner Mitbürger schleicht der massige Mann nicht auf Zehenspitzen um das Wort "Völkermord" herum. "In den mündlichen Überlieferungen der Kurden sind die Erinnerungen an den Völkermord an den Armeniern sehr lebendig, denn sie waren ja unmittelbar dabei", erzählt Aladag.
"Fast jeder Kurde in Van wird ihnen auf die Frage nach den Armeniern sagen können: 'Mein Großvater hat fünf Armenier getötet', 'meine Großmutter war Armenierin', oder 'mein Feld hat früher Armeniern gehört’, und ähnliche Geschichten. Die meisten Kurden wissen von dem Völkermord an den Armeniern und erkennen ihn auch als solchen an", so Aladag weiter.
Worte der Entschuldigung
Der Anwalt und seine Freunde wollen es deshalb nicht bei Gastfreundschaft bewenden lassen, wenn die Armenier nun kommen, sie wollen einen Schritt weiter gehen: "Wir wollen sie am Flughafen begrüßen, und zwar mit einem Transparent, auf dem wir uns offiziell entschuldigen wollen dafür, dass unsere Vorfahren vor hundert Jahren an diesen Massakern beteiligt waren. Wir wollen ein Transparent machen, auf dem das steht - auf Englisch, Türkisch, Kurdisch und Armenisch."
Soweit würden sich freilich noch immer die wenigsten Menschen in Van vorwagen. Sehr viele Bewohner der Stadt denken aber so wie der kurdische Kaufmann Fevzi Celiktas, der in seinem für die armenischen Gäste frisch geputzten Sommerhaus am Stadtrand über seine Beweggründe nachdenkt:
"Wir wollen die Enkel dieser Menschen kennenlernen, die mit unseren Großvätern das Brot gebrochen haben. Und wir wollen, dass diese Blutfehde endlich ein Ende hat. Das ist alles passiert, ja, aber es muss nun vorbei sein. Diese Feindschaft lastet auf mir, ich empfinde sie als eine Schande. "