Wolfgang Thierse im Journal zu Gast

"Beitritt war der schnellere, pragmatische Weg"

Im Journal zu Gast ist Wolfgang Thierse, der Vizepräsident des deutschen Bundestages. Am 3. Oktober, jährt sich zum 20. Mal die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. 1990 wären nicht alle für einen sofortigen Beitritt der DDR zur BRD gewesen. Eingie wollten einen "besseren" deutschen Staat aus der Taufe heben. Er, Thierse, sei bald überzeugt gewsen, dass die Vereinigung die bessere Lösung sei.

Mittagsjournal, 02.10.2010

Schnelle Vereinigung Deutschlands 1990

Ein knappes Jahr zuvor, 1989, hatte eine Protestbewegung von Bürgern des kommunistischen ostdeutschen Staates, der DDR, die Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze erzwungen. Danach setzte die westdeutsche Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl ganz auf eine schnelle Vereinigung, die sie schließlich gegen Widerstände in Ost und West durchsetzen konnte.

Thierse war Oppositioneller in der DDR

Vor 20 Jahren, am 3. Oktober 1990, war es soweit, die DDR trat der Bundesrepublik Deutschland bei. Wolfgang Thierse ist heute 67 Jahre alt. Er war in der DDR oppositionell gesinnt, war nach der Wende SPD-Vorsitzender der DDR, später Präsident und heute Vizepräsident des deutschen Bundestages.

Nicht am Reichstagsgebäude

In seiner Erinnerung sei der 3. Oktober ein aufregender Tag gewesen. Er war aber nicht am Reichstagsgebäude, denn er sei mit dem Auto nicht durchgekommen. Also sei er wieder heimgefahren. Am Prenzlauer Berg hätten Oppositionsgruppen gerade die Republik Utopia ausgerufen, wider die deutsche Vereinigung. Das sei absurd gewesen, aber eben ein Zeichen der neuen Meinungsfreiheit, betont Thierse.

Angst vor Vereinigung

Am Anfang hätten die Leute Angst gehabt vor einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands. Die DDR-Opposition wollte zunächst einfach Grundfreiheiten, eine Öffentlichkeit. Einige, wie die Ex-Kommunisten, wollten zunächst einen "besseren" deutschen Staat. Die Einheit Deutschlands getraute man sich nicht als erstes zu fordern, denn das sei unter der SED-Herrschaft das größtmögliche Tabu gewesen. Er habe zu jenen gehört, die eine Spaltung überwinden wollten, schon kurz nach dem Mauerfall. Die Menschen wollten auch das "Erreichbare", den Wohlstand, des Westens haben.

Beitritt "freier Entschluss der DDR"

Der Beitritt der DDR zur BRD sei der freie Entschluss der Volkskammer der DDR gewesen. Thierse betont, dass das oft vergessen werde. Sicher sei die BRD der stärkere Verhandlungspartner gewesen, habe viele der Beitrittsbedingungen diktiert, aber der Beschluss beizutreten sei der feie Wille der DDR gewesen. Der Beitritt sei der pragmatische, rasche Weg der Demokratisierung gewesen. Einige Gruppen wollten die Lebensdauer der DDR verlängern.

Zu Beginn zu viele Versprechungen

Der Kanzler der Vereinigung, Helmut Kohl, hat den Bürgern "blühende Landschaften" versprochen und den BRD-Bürgern keine Steuererhöhungen durch den Zusammenschluss. Thierse sagt, dass das natürlich falsch war. Er meint, bei Kohl sei das eine Mischung aus Überschwang und genialer parteipolitischer Taktik gewesen. Schließlich sei es ein Wahljahr gewesen. Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte das auch glauben, so Thierse. Allerdings habe diese Versprechen sehr viel beigetragen zu den späteren Enttäuschungen.

Thierse dankbar für Verneinigung

Heute, 20 Jahre später, gebe es in vielen Städten die blühenden Landschaften Helmut Kohls. In der DDR seien viele Städte 40 Jahre dem Verfall preisgegeben gewesen. Es sei viel besser als damals. Dafür müsse man auch dankbar sein. Etwas nüchterner hätte man die Vereinigung angehen müssen, dann wären den Menschen viele Enttäuschungen erspart geblieben.

Osten: Mehr Forschung und Entwicklung

Die Abwanderung der jungen Menschen aus Ostdeutschland sei logisch, sagt Thierse. Junge Menschen suchten immer die besten Möglichkeiten. Was ihn störe, sei, dass Ostdeutschland noch immer eine "Filialökonomie" Westdeutschland sei. Große Firmen hätten ihre Geschäftszentralen im Westen. Im Osten gebe es kleinere Firmen, die natürlich gefährdeter seien. Es werde im Osten auch viel zu weniger in Forschung und Entwicklung investiert. Dieses Ungleichgewicht dürfe sich nicht fortsetzen. Das müsse man ändern.

Unterschiede zwischen Ossis und Wessis

Ob es noch etwas DDR-typische an ihm gebe? Thierse sagt, es sei vielleicht sein distanziertes Verhältnis zu Geld, die Tatsache, dass er Menschen nicht daran bemesse, welchen Erfolg sie hätten. Er habe auch noch ein Gefühl für Solidarität.

Vereinigung dauert noch an

Er hoffe, dass in 20 Jahren niemand mehr über die Unterschiede zwischen den Teilen Deutschlands sprechen werde. Politisch sei es schnell gegangen, wirtschaftlich dauere die Angleichung noch, aber die Mentalität der Menschen verändere sich am langsamsten.

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