Roman von Alan Pauls
Geschichte der Tränen
Die Hauptfigur in Alan Pauls schmalem Roman "Geschichte der Tränen" besitzt mit ihren vier Lebensjahren eine besondere Fähigkeit. Der empfindsame Junge, der in den 1960er und 70er Jahren in Argentinien aufwächst, kann auf besonders intensive Weise den Menschen zuhören, sie zum Reden bringen und sich einfühlen.
8. April 2017, 21:58
Er saugt das Leid der anderen auf wie ein Schwamm und vergießt viele Tränen wenn er mit seinem Vater durch die Straßen von Buenos Aires geht. Von klein auf traut er dem Schmerz mehr als dem Glück.
Er schenkt dem Glück keinen Glauben, wie übrigens keinem Gefühl, das bewirkt, dass der, den es beseelt, nichts braucht.
Gefühle nur bei Unglück
So begeistert sich der Knabe zwar für Superman, doch weniger für die Heldentaten der Comicfigur als für deren Momente der Schwäche. Er selbst wird zu einer Art "Superman der Nähe", fremdes Unglück setzt große Gefühle in ihm frei, reißt ihn in eine regelrechte Ekstase der Anteilnahme. Seine Fähigkeit zum allumfassenden Mitgefühl verschafft ihm die Anerkennung seines Vaters, der sein Wunderkind gern im Kreis seiner links-bewegten Freunde und Mitstreiter herumzeigt.
Alan Pauls zeigt seinen Helden in drei Entwicklungsphasen. Zuerst treffen wir auf ein, mit seinen ganz und gar ungewöhnlichen Fähigkeiten leicht monströses Kind, das unmittelbar emotional an seiner Umgebung Anteil nimmt. Das empathische Kind verwandelt sich in einen jugendlichen Sozialisten, der die politische Theorie verschlingt, und der sich einerseits gern in den bewaffneten Kampf gegen die Militärs stürzen würde, dem andererseits aber im entscheidenden Moment die Sprache der Gefühle und damit sein Bezug zur Welt abhanden kommt. In jenem Augenblick nämlich, als er zusammen mit einem Freund im Fernsehen den Putsch gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende sieht. Seine Tränen bleiben aus, während der Freund weint.
Warum ist er nicht so nah dran? Was trennt ihn von dem, was er so gut versteht, besser als jeder andere versteht? Noch nie, scheint ihm, war die Welt so ungerecht: Nur er hat ein Recht zu weinen, aber seine Augen sind so trocken, dass er ein Streichholz an ihnen anreißen und entzünden könnte.
Der Held bleibt in seiner Passivität gefangen. Politische Aktion ist nicht mehr möglich. Schließlich begegnen wir der Hauptfigur als Erwachsenen, der überall auf die Spuren der vergangenen Diktatur trifft.
Ein Stück argentinischer Geschichte
Während sich Alan Pauls in seinem ersten auf Deutsch erschienenen - und ebenfalls von Christian Hansen übersetzten - Roman "Die Vergangenheit" dem Privaten innerhalb einer Militärdiktatur widmete, sozusagen der privaten Blase innerhalb einer politisch bedrückenden Zeit, wendet er sich in "Geschichte der Tränen" dem Politischen zu, genauer gesagt seiner Entwicklung innerhalb des Privaten, in das Private hinein und aus dem Privaten heraus.
In labyrinthischen, zwischen verschiedenen Zeitebenen mäandernden Sätzen, die nicht selten über mehr als eine Seite reichen, erzählt Alan Pauls ein Stück argentinischer Geschichte in einer virtuosen Mischung aus Politik und Intimität. Dabei geht es nicht um Helden und Opfer, sondern um eine persönliche politische Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion, zwischen Persönlichem und Allgemeinen, zwischen Solidarität und geborgten Gefühlen, zwischen politischer Haltung und politischer Aktion.
Und es geht um die Suche nach der Vergangenheit. Der persönlichen in der politischen – vor dem Hintergrund der gewalttätigen argentinischen Geschichte. Der Staatsterror kostete allein in der Zeit der Militärjunta von 1976 bis 1983 dreißigtausend Menschen das Leben.
Mit Zombie-Faktor
Besonders beeindruckend stellt Alan Pauls das Groteske am Alltag in einer Militärdiktatur dar. Und zwar in jenen Passagen des Romans, in dem aus der Perspektive des Kindes erzählt wird. Das Kind integriert Unverständliches oder diffus Bedrohliches in seine Fantasien. Die Anwesenheit der Militärs auf den Straßen verknüpft es mit Science-Fiction-Serien und Horrorfilmen.
Er senkt den Blick auf Dreiradhöhe und sieht die Militärs gemeinsam kommen, so im Gleichmaß, dass ihr Schritt einstudiert wirkt. Sie kommen im Auftrag. Stets haben sie eine Mission. Der mechanische Purismus ihrer Gesten, das fehlende Zaudern, die Entschlossenheit, mit der sie sich bewegen, all das hat einen hohen Zombie-Faktor.
Nach und nach klärt sich manches kindliche Rätsel im Rückblick auf. Zum Beispiel, wer der einsame Militär mit den feinen Händen in der Nachbarwohnung war, der manchmal auf den Knaben aufpasste, während die Mutter ausging. Eine schaurige Schlusspointe des Romans übrigens.
Privates mit Öffentlichem verknüpft
Alan Pauls verknüpft in "Geschichte der Tränen" private Wahrnehmungen mit öffentlichem Geschehen, nähert sich der Geschichte sozusagen durch die Hintertür intimer Alltagserfahrungen. Dabei stellt der Text die Frage nach dem politischen Engagement der Intellektuellen. Von den lateinamerikanischen Theoretikern der Linken wurde und wird es vehement eingefordert. Von manchem Künstler wird es selbstreferentiell vorgeführt und bleibt in der Gutmenschenpose stecken – im Roman wird das bitter-sarkastisch im Auftritt eines aus dem Exil zurückgekehrten Liedermachers dargestellt.
Alan Pauls Text stellt die Frage, an welchem Punkt in einer Biografie das Persönliche und das Politische ineinander übergehen können, er stellt die Frage nach der emotionalen Fähigkeit politischer Erfahrung. Und danach, was Zeitgenossenschaft überhaupt sein kann. Hochaktuell - nicht nur für Lateinamerika!
Service
Alan Pauls, "Geschichte der Tränen", aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen, Klett-Cotta
Klett-Cotta - Alan Pauls