Christian Schüllers ausgewählte Sozialreportagen

Unter Außenseitern

Seit über 15 Jahren liefert die ORF-Reportage-Reihe "Am Schauplatz" wöchentlich ungewöhnliche Lebensgeschichten, aufmerksame Milieustudien und fundiert recherchierte Sozialreportagen. Unter dem Titel "Unter Außenseitern" gibt es nun ausgewählte Werke aus 30 Jahren nachzulesen.

Die dezente, aber einprägsame Kennmusik der TV-Sendereihe erinnert an Herzschläge, die aus dem Rhythmus gekommen sind, so wie das Leben der meisten Porträtierten aus der Bahn geraten ist. Danach folgen die ruhigen, besonnenen Eingangsworte des Sendungsleiters Christian Schüller mit denen er uns zumeist in eine kaputte Welt oder ein prekäres Leben einführt.

Wir spüren, dass wir gut aufgehoben sind. Dass da keiner ist, der mit dem Finger zeigt und sagt: "Schau, wie arg!" Aber auch keiner, der auf die Tränendrüse drückt und jammert: "Schau, wie arm!" Christian Schüller ist einer, der vor allem einmal zuhört, die richtigen Fragen stellt und das Ergebnis in die passende Relation rückt.

Blick auf das anonyme Leiden

Die Reportage "Absturz auf Raten" ist 15 Jahre alt und dennoch - leider - aktueller denn je. Im Mittelpunkt steht ein dreifacher Familienvater aus Wien, der Schritt für Schritt alles verliert: Zuerst seinen Job, dann seine Freunde, seine Frau, seine Kinder und zum Schluss die Sozialwohnung. Schüller hat ihn zufällig entdeckt. Weil er wissen wollte, was mit Menschen passiert, die mitten in der Großstadt ihr Zuhause verlieren, ist er Möbelpackern unauffällig gefolgt. Als diese bei einer großen Wohnhausanlage frühstücken gingen, hat er herausgefunden, wer hier delogiert werden soll.

"Andernfalls sehe man sich gezwungen ...", heißt es in den meisten Briefen, die der knapp 50-jährige Mann fein säuberlich gesammelt und gestapelt hat und jetzt erstmals vor der Kamera öffnet. Denn je höher der Stoß wurde, desto schwerer fiel es ihm, daran zu rühren.

Als schwer depressivem Charakter war es ihm völlig unmöglich, seine Probleme mit anderen zu teilen. Schüller beschreibt auf eindrückliche Weise, wie hier mitten im Sozialbau, der einst dafür gedacht war, dass Menschen sich gegenseitig unterstützen, einer vor den Augen der anderen abstürzt, nur weil ihm die Fähigkeit fehlt, "Hilfe" zu schreien.

Im Visier der Behörden

In der Reportage "Auf Wiedersehen, Österreich", die ebenfalls bereits in den 1990er-Jahren entstand, begleiten Schüller und sein "Schauplatz"-Team den im Alter von 15 Jahren aus der Türkei zugewanderten Ali. Wegen diverser Betrügereien wird er zu vier Jahren Haft verurteilt.

Ali gilt als vorbildlicher Häftling und wird deshalb vorzeitig entlassen. Auch um sich um seine österreichische Pflegemutter zu kümmern: Frau Pollak, eine 80-jährige Rentnerin, die auf seine Hilfe angewiesen ist. Doch der Fremdenpolizei ist das herzlich egal. Wiedergutmachung, Tatausgleich und Resozialisierung zählen im Falle eines Fremden nicht. Er wird abgeschoben in das Dorf, aus dem er stammt, wo ihn aber kaum mehr einer kennt und er keinerlei Anschluss findet. Für Frau Pollak, die ihn regelmäßig im Gefängnis besuchte, bricht eine Welt zusammen.

Während die Wiener Stadtverwaltung nach der Reportage über den durch alle Maschen des sozialen Sicherheitsnetzes gefallenen Familienvaters tatsächlich reagiert und Sozialarbeiter beauftragt, sich zukünftig um säumige Mieter zu kümmern, hat Alis Geschichte keinerlei offizielle Auswirkungen.

Christian Schüller schreibt auch, dass ihm völlig klar sein, dass es sich um Einzelfälle handle, die "oft quer zu den großen Entwicklungslinien verlaufen". Dennoch ist es ihm natürlich ein großes Anliegen, gesellschaftliche Missstände anhand eben dieser Einzelschicksale aufzuzeigen.

Unspektakuläre Art, große Wirkung

Es ist jedes Mal aufs Neue eine große Herausforderung: Will man ein "schwieriges" Thema emotional begreifbar machen, so sind die unmittelbar gezeigten Gefühle und miterlebten Schicksalsschläge der Opfer sicher der beste und direkteste Weg ins Herz des Betrachters.

Hier kann das Medium Fernsehen ganz stark sein, aber auch fürchterlich versagen. Wenn nämlich nur einen Hauch zu dick aufgetragen wird oder man die eigentliche Kälte oder die tatsächlichen Beweggründe des Reporters hinter dem Mikrophon spürt, kehrt sich Mitleid oder Verständnis oft in Ignoranz und Verachtung um. Geholfen ist damit niemandem: nicht dem Sender, nicht dem Gestalter und schon gar nicht dem solcherart "ausgestellten" Betroffenen.

Schüller gelingt diese Gradwanderung zumeist durch seine unvergleichlich unspektakuläre Art, Dinge beim Namen zu nennen. Im Ton eines gut eingeführten, liebenswerten Märchenerzählers bringt er uns ganz reale Gräueltaten nahe, die sich nicht hinter den sieben Bergen zutragen, sondern tagtäglich direkt vor unserer Haustüre.

15 berührende Geschichten

Ein Ehepaar, das in einer öffentlichen Toilettenanlage arbeitet und wohnt, ein einsamer Pensionist, der von Prostituierten gepflegt wird, eine Jüdin, die 53 Jahre nach ihrer Deportation noch einmal nach Wien zurückkehrt - insgesamt 15 herausragende Geschichten, die Schüller als Reporter erlebt hat, gibt er nun in kompakter und kurzweiliger Form schriftlich wieder. Das Bild, sofern man es nicht vielleicht noch irgendwo gedanklich gespeichert hat, geht dabei gar nicht ab.

Es sind berührende Geschichten von Außenseitern, die den Porträtierten sehr nahe kommen, ohne distanzlos zu sein. Zu verdanken haben wir all das überraschenderweise dem guten, alten christlichen Evergreen, der Schuld. Das gibt Schüller auch offen zu. Die Tradition seines Vaters fortsetzend, - der als einziger im Dorf studieren durfte und diesen Bonus mit kostenloser Rechtsberatung lebenslang zurückzahlte -, ist es ihm ein Anliegen, als Mann mit Kamera und Mikrophon jenen Menschen Aufmerksamkeit zu schenken, die selten die Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen.

Service

Christian Schüller, "Unter Außenseitern. Sozialreportagen aus 30 Jahren", Kremayr & Scheriau Verlag

Kremayr & Scheriau
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