Dacia Maraini zum Holocaust

Der Zug der jüngsten Nacht

Dacia Maraini ist zweifellos die Grande Dame der italienischen Literatur und eine der wichtigsten Stimmen des Landes. 1961 gelang ihr mit dem Roman "La Vacanza", zu Deutsch "Tage im August", der Durchbruch. Mit Werken wie "Die stumme Herzogin" und die "Kinder der Dunkelheit" trat sie endgültig aus dem Schatten ihres langjährigen Lebenspartners, Alberto Moravia, heraus.

Die Tochter einer verarmten sizilianischen Adeligen und eines Ethnolgen kam durch die Arbeit des Vaters als Kleinkind 1938 nach Japan. Die darauf folgenden Jahre prägten sie für den Rest ihres Lebens. In den 1970ern schloss sie sich der Frauenbewegung an und begann sich intensiv für Frauenrechte und Gleichberechtigung einzusetzen. Im Zentrum ihres Schaffens stehen daher starke und unabhängige Frauen. So auch in ihrem Roman "Der Zug der jüngsten Nacht", der jetzt auf Deutsch erschienen ist.

Kulturjournal, 12.10.2010

Spurensuche nach einem Kindheitsfreund

Fragend und traurig ist der Blick des jungen Mädchens auf dem Buchcover. Ein Cover, das Dacia Maraini sehr gefällt, sagt sie. Denn es entspricht der Protagonistin ihres Romans. Eine junge Italienerin, die sich auf die Spurensuche nach einem Kindheitsfreund macht. Man schreibt das Jahr 1956. Und Amara - so der Name der jungen Frau - ist auf dem Weg nach Polen, genauer: auf dem Weg nach Auschwitz-Birkenau. Mit einer langen Zugfahrt beginnt Dacia Maraini ihren historischen Roman, der aus dem Europa des Kalten Krieges zurück zu den Gräueln der Nazizeit führt.

"Ich war selbst zwei Jahre in einem japanischen Konzentrationslager. Das war ein Lager für italienische Antifaschisten in Japan. Damals war ich ein Kind, ich war zu Beginn sechs Jahre alt. Aber diese Erfahrung hat mich sehr geprägt. Sie hat mich das ganze Leben nicht mehr losgelassen."

Prägende Vergangenheit

Konzentrationslager, Gefängnisse, Orte des Grauens und der Isolation haben daher seit damals Dacia Marainis Interesse hervorgerufen: "Ich bin sehr oft nach Polen gefahren, um mir die Konzentrationslager selber anzusehen. Ich habe sehr viel darüber gelesen und habe Zeitzeugen angehört. Das hier ist eine Geschichte, die faktisch allein entstanden ist. Ich spürte einfach, ich muss sie erzählen."

Diese Geschichte, das ist die der jungen Journalistin Amara, die auch elf Jahre nach Kriegsende die Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass ihr jüdischer Freund Emanuele Orenstein den Holocaust überlebt hat. Und so wird eine in Auftrag gegebene Recherche-Reise für die schüchterne Frau eine Fahrt in die Vergangenheit. Bei der sie unfreiwillig auch gleich in den Ungarischen Volksaufstand gerät.

Am Ende der Reise findet Amara ihren geliebten Emanuele. Aber nicht so, wie sie sich erhofft hatte. "Als ich zu schreiben begonnen hatte, wusste ich nicht, wie das Buch enden würde", erinnert sich Maraini. "Am Ende habe ich aber verstanden, dass ein Mensch, der das erlebt, was dieser Bub erlebt hat, nicht ohne Schaden zu nehmen daraus hervorgehen kann. Vor allem durch die medizinischen und chemischen Experimente, die an den Gefangenen durchgeführt wurden. Entweder starben die Menschen ohnehin oder sie waren am Ende nicht mehr dieselben. Das Todesurteil war mitunter nicht einmal das Schlimmste. Das waren oft die zugefügten Persönlichkeitsveränderungen. Ein anderes schreckliches Verbrechen, das die SS in den KZs begangen hat."

Mit Österreich verbunden

Die Spurensuche führt Amara auch nach Wien, Emanueles Heimatstadt. Und so lässt Dacia Maraini ihre Heldin die Straßen der Wiener Innenstadt durchlaufen. Unabhängig von ihrem Roman, sagt Dacia Maraini, fühlt sie sich mit Österreich sehr verbunden: "Österreich ist ein Land, das auch auf Grund seiner vielen Schönheiten - vor allem Wege der Wälder und die Berge - liebe. Nicht zufällig ziehe ich mich hier, wenn ich schreibe, in die Abruzzen zurück. Ich habe hier ein Haus, das nur hundert Meter von einem großen Buchenwald entfernt steht, in dem Wölfe und Bären leben."

Dort schreibt sie derzeit an einem Buch, das - anders als "Der Zug in die jüngste Nacht" - tatsächlich autobiografisch sein wird. Mehr verrät sie nicht, es sei noch zu früh. In einem Jahr werde man mehr wissen.

Service

Dacia Maraini, "Der Zug in die jüngste Nacht", aus dem Italienischen übersetzt von Eva-Maria Wagner, Piper Verlag

Dacia Maraini
Piper - Der Zug in die jüngste Nacht