Debütroman von Angelika Reitzer

unter uns

Angelika Reitzer versteht sich auf die Mikroszenen, sie kann geradezu alltägliche Situationen sprachlich in neuem Licht erscheinen lassen, das hat sie schon mit ihren Prosabänden "Taghelle Gegend" und "Frauen in Vasen" bewiesen. Und sie generiert einen Prosastrom, der es nicht zulässt, dass der Leser in einer konsumierbaren Geschichte Platz nimmt.

In ihrem ersten Roman "unter uns" wechselt sie immer wieder die Erzählperspektive und zwingt zum Innehalten, denn plötzlich ist man mitten in einen Dialog geraten, ohne dass das durch Anführungszeichen schon von vorneherein sichtbar gewesen wäre. Vor allem aber sind die Schnitte nicht durch Absätze markiert, und so kommen die bestürzendsten Szenen daher wie selbstverständlich, als wären sie eine Konsequenz des Vorhergehenden.

Abschied von der Eltern-Rolle

Überraschend ist schon die Eingangsszene: ein Familienfest, mit dem sich die Eltern von ihrer Rolle als Eltern verabschieden; sie haben ihre Arbeit getan, das Gasthaus wird verpachtet, und jetzt wollen sie auswandern. Rückblenden zeigen, dass sie ihre Tochter Clarissa schon als Kind allein gelassen haben: Wichtig war die Arbeit, das Essen - und dass der Vater daherlabern konnte, was ihm gerade einfiel.

In gewisser Weise tritt Clarissa in die Fußstapfen ihrer Eltern: Auch sie ist zuerst eine fleißige und erfolgreiche Arbeitsbiene, dann steigt sie aus. Nein, sie stürzt ab, hat über ihre Verhältnisse gelebt und sich verschuldet, und da sie auch keine neue Arbeit findet oder finden will, wohnt sie im Haus von Freunden im Keller; und sie hat nicht einmal mehr eine Bankkarte. Clarissas Abstieg und ihre Rückzugsphantasien, ihr zunehmender Ekel vor sich selbst, sind ein roter Faden des Romans, psychologisch genau gezeichnet und sprachlich aufs Äußerste verknappt.

Porträts der "Generation Projekt"

Es ist vielleicht schon allzu oft bemerkt worden, dass Angelika Reitzer quasi spezialisiert darauf ist, die trendig kommunizierende "Generation Projekt" mit ihren flexiblen Arbeitsverhältnissen und hippen Veranstaltungen auf die literarische Bühne zu holen. Auch im Roman "unter uns" treffen wir auf Susanne, die, wie es heißt, "von Unterrichten über Massieren bis zur Homepage-Gestaltung schon alles ausprobiert" hat; oder auf das Paar Kevin und Vera - er aufstrebender Filmkritiker, sie um Subventionen bangende Kleinverlegerin. Das Kunst- und Kulturmilieu, das Angelika Reitzer aus ihrer eigenen Arbeit kennt, ist sozusagen lebensecht in den Roman eingeflossen. Und die schöne neue Firmenwelt wird in folgenden Sätzen treffend diagnostiziert:

Restrukturierung bedeutet Personalabbau. Ist ja klar. Wie soll es dem Unternehmen gut gehen, wenn es alle seine Angestellten behält?

Mobbingstrategien und Kündigungssituation kommen ebenfalls in den Blick. Und natürlich die Bedingungen, unter denen immer neue Projekte das Überleben sichern. Treffend heißt es im Roman einmal:

Eine Idee allein interessiert überhaupt niemanden mehr. Das muss schon ein ausgewachsenes Konzept sein, du brauchst Projektträger, einen fertigen Kosten- und Finanzierungsplan.

Genau durchgearbeiteter Erzählstrom

Hier lauert allerdings auch die Klischeefalle: dass man aus dem Roman nur das erfährt, was man in der bösen Wirklichkeit schon selbst erfahren oder zumindest in den Medien gelesen hat. Stark und unverwechselbar ist Angelika Reitzers genau durchgearbeiteter Erzählstrom in den individuellen Lebenssituationen: Wenn Clarissa in ihrem Keller jeden Laut unterdrückt, weil über ihr eine Hausgeburt stattfindet und sie zwar vereinbart hat, das Haus zu verlassen, aber dazu nicht imstande war - da hält man den Atem an. Und wenn sich die Ehepartner im Arbeits- und Veranstaltungsgetriebe ganz undramatisch verlieren, zuckt man zusammen.

Aber unüberbietbar komisch sind sie auch, die hippen Projektleute: Wenn etwa jeder von ihnen während der Besetzung der Uni Wien "nicht nur einmal bei den Studierenden vorbeigeschaut hat" und es Vera Tränen in die Augen treibt, weil dort einer verkündet "Ich bin ein Hackler" und mit geballter Faust deklamiert: "Es lebe die internationale Solidarität."

Literarische Anspielungen

Fragen kann man stellen an die Gesamtkonstruktion des Romans. Er steckt voller anspielungsreicher Namen: Clarissa und Ulrich evozieren Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", Selina erinnert an Jean Paul und an Walter Kappachers gleichnamigen Roman - aber es ist nicht ganz klar, wie der Roman mit diesen Anspielungen arbeitet.

Vor allem aber leuchten im Roman so viele Fäden auf, die nicht weitergesponnen werden. Und sind die referierten Suizide einer Büroarbeiterin, eines Technikers und eines Callcenter-Mitarbeiters nicht ein dramatischer Schlusspunkt, der etwas aufgesetzt wirkt? Ohne ihn könnte der Roman noch länger fortgeschrieben werden - oder schon früher zu Ende sein.

Unverwechselbare Stimme

Aber um es noch einmal zu sagen: In den Einzelszenen ist Angelika Reitzers Roman "unter uns" stark. Und immer wieder in einzelnen unverwechselbaren Sätzen: "Ein Wir ist auf diese verzweifelten Menschen, die sich unbedingt gut unterhalten wollen, nicht anwendbar", heißt es etwa angesichts der Abschiedsfeier der Eltern am Romanbeginn. Und eine originelle Maxime ist zweifellos auch der folgende Satz: "Wie Tauben und Katholiken sollten sich die Menschen fürs Leben zusammentun."

Kein Zweifel: Angelika Reitzer ist eine unverwechselbare Erzählstimme, sie hat einen neuen Tonfall in die österreichische Literatur gebracht.

Service

Angelika Reitzer, "unter uns", Residenz Verlag

unter uns