Joshua Ferris' zweiter Roman
Ins Freie
Im Sommer dieses Jahres widmete das amerikanische Magazin "The New Yorker" seine Literaturausgabe einflussreichen Autoren, die allesamt unter 40 Jahre alt sind. Der erste Text in diesem Heft stammt von Joshua Ferris. Auch das ein Hinweis, dass der 1974 geborene Ferris zurzeit einer der vielversprechendsten jungen Autoren der USA ist.
8. April 2017, 21:58
Sein Ansehen basiert auf seinem ersten Roman - dem 2007 erschienen Buch "Then We Came to the End." Da beschreibt er die Umtriebe einer Werbeagentur in Chicago. Bemerkenswerter noch als die witzige Handlung ist die Erzählweise. Ferris schreibt in der ersten Person Plural. Fast ausnahmslos berichtet er in der Wir-Form.
Gehen, gehen, gehen
Groß waren nach diesem beeindruckenden Debüt die Erwartungen bezüglich des neuen Romans. Und wirklich beginnt "Ins Freie" fulminant. Schon auf der zweiten Seite wird klar, dass hier etwas Angsteinflößendes vor sich geht. "Er würde dieses Haus nicht halten können", heißt es. "Das Haus nicht, die Einrichtung nicht, gar nichts". Und zwei Seiten weiter wird dem Protagonisten bewusst: "Es geht wieder los".
In dem Moment, in dem der Leser mit Tim Farnsworth konfrontiert wird, weiß er schon, dass der am Scheideweg seines Lebens steht. Auf der einen Seite das Bild nach außen, das schöner nicht sein könnte: Tim ist Partner in einer führenden Anwaltskanzlei in New York. Er ist ein brillanter Anwalt, der fast jeden Fall gewinnt; er hat eine tolle Frau, eine schönes Haus und eine Tochter, die zwar gerade die pubertätsspezifischen Probleme durchläuft, aber sonst ganz passabel geraten ist.
Alles wäre schön und alle wären zufrieden, wenn Tim nicht gerade wieder von seiner seltsamen Erkrankung heimgesucht würde. Denn aus irgendeinem Grund muss Tim immer wieder gehen. Egal wo er gerade ist - ob zuhause oder vor Gericht - wenn es ihn packt, muss er hinaus. Im Sommer, im Winter, zu jeder Jahres- und Uhrzeit. So lange läuft er durch die Gegend, bis er völlig erschöpft zusammenbricht. Seine Frau hat ihm einen Rucksack gepackt, in dem sich all das befindet, was er braucht, um nicht zu erfrieren. Denn wenn er nicht mehr weiter kann, schläft er auf der Straße ein - auch wenn es draußen minus 20 Grad hat.
Die unbekannte Krankheit
"Ins Freie" heißt der Text auf Deutsch - was durchaus passend ist, weil es sich auf Tims Drang bezieht, unter allen Umständen ins Freie hinauszumüssen. Im Englischen heißt der Roman "The Unnamed" also "Das Unbenannte", oder "Das Namenlose". Und dieser Titel weist auf den Kern des Textes hin, denn über viele Seite verfolgen wird den Protagonisten, wie er sich von einem Arzt zum anderen schleppt, von einer seltsamen Therapie hin zum nächsten Scharlatan.
Niemand kann sagen, worunter Tim leidet. Niemand schafft es, den namenlosen Schrecken zu benennen. Die Ärzte wissen nicht einmal, ob seine Krankheit psychische oder physische Ursachen hat. Immer wieder zeigt sich Tim erfreut, wenn er bestätigt bekommt, dass es sich nicht um einen Tick, nicht um geistige Verwirrung handelt, sondern dass irgendwelche Vernetzungen in seinem Hirn anscheinend nicht passen. Seine Beine müssen gehen, Tim ist nicht mehr Herr über seinen eigenen Körper.
Eine Familiengeschichte?
Der namenlose Schrecken treibt die Familie an ihre Grenzen. Tim verliert die Partnerschaft in der Anwaltskanzlei. Seine Frau Jane, die ihn immer wieder aus den dunkelsten Ecken der Stadt auflesen muss, gibt ihren Job auf, um sich ganz um ihren Mann zu kümmern und Tochter Becka reagiert auf die Turbulenzen mit regelrechten Fressorgien. Wie ein äußerer Feind bricht die Krankheit in die Familie ein und verändert diese nach und nach.
Das Setting des Romans ist also durchaus spannend, aber leider verliert die Geschichte nach dem furiosen Start an Drive. Nach vierzig, fünfzig Seiten passiert nicht mehr viel Neues. Eine Wanderung reiht sich an die nächste, ein Ehekrach an den anderen. Man muss es leider sagen: Der Plot reicht nicht für 300 Seiten. Irgendwann sind die Schilderungen der Arztbesuche nur mehr redundant - auch wenn es Ferris durchaus gelingt, die Geschichte der Familie durch kunstvoll angeordnete Rückblicke fassbar zu machen.
Es scheint, als wäre dem Autor nicht ganz klar gewesen, was er eigentlich schreiben wollte. Eine Familiengeschichte à la Jonathan Franzen, wie sie zurzeit in den Staaten so angesagt sind? Eine Parabel über unser postmodernes Leben, in dem alle Sicherheiten in Frage gestellt sind? Oder ist es der Versuch, den namenlosen Schrecken, der Amerika seit dem 11. September 2001 heimsucht, in literarische Form zu gießen? Das Namenlose bedroht die Idylle, die Gefahr lauert überall, die Familie ist verwundbar. So lautet Ferris' - im Grund recht konventionelle - Diagnose des American Way of Life anno 2010.
Fremde Figuren
Darüber hinaus bleiben auch die Figuren seltsam konturlos. Die Partner in der Kanzlei haben nur die Aufgabe, Tim das Leben schwer zu machen. Seine Frau und Tochter sind auch nicht viel mehr als Statisten.
Und auch die Hauptfigur bleibt dem Leser fremd. Wenn er wieder einmal in den Slums landet, wo ein Obdachloser gerade versucht, den schlafenden Tim zu vergewaltigen; wenn er sich vor Gericht lächerlich macht, weil er mitten in der Verhandlung wieder hinaus muss - selbst dann hält sich das Mitgefühl des Lesers in Grenzen. Am Schluss gibt es zwar eine Art Happy End, aber da haben es viele wahrscheinlich bereits dem Helden nachgemacht - und sind ins Freie hinaus geflüchtet. Ohne Buch.
Service
Joshua Ferris, "Ins Freie", aus dem Amerikanischen übersetzt von Marcus Ingendaay, Verlag Luchterhand
Luchterhand - Ins Freie