Gegenwartsfragen an die Geschichte

Zeitenschwelle

Der Historiker Dan Diner untersucht in seinem neuen Werk die politische und die kulturelle Stagnation, die seiner Einschätzung nach in vielen Ländern der islamischen Welt herrschen. Wie leisten muslimischen Kulturen Widerstand gegen die "Entzauberung der Welt"?

Ambivalente Moderne

Dan Diner ist einer der anregendsten historischen Denker der Gegenwart. Dabei lässt der in Leipzig und Jerusalem lehrende Geschichtswissenschaftler in keinem seiner Texte einen Zweifel daran aufkommen, dass er sich der Aufklärung und ihren rationalistischen, skeptizistischen und vor allem humanistischen Prinzipien verpflichtet fühlt.

"Zeitenschwelle", das jüngste, im Verlag Pantheon erschienene 260-Seiten-Werk Dan Diners, versammelt zehn Essays, in denen sich der 64-Jährige mit den Ambivalenzen und Antagonismen der Moderne auseinandersetzt. Ob es um den "imperialen Republikanismus" des modernen Amerika geht oder um das Fortleben antisemitischer Stereotype nach Auschwitz: Dan Diner erweist sich in seinen Essays als scharfsinniger - und penibel differenzierender - Analytiker.

Sakraler Osten, säkularer Westen?

In zwei seiner Texte beschäftigt sich Diner - wie schon in seinem vieldiskutierten Werk "Versiegelte Zeit" aus dem Jahr 2005 - mit der politischen und kulturellen Stagnation, die seiner Einschätzung nach in vielen Ländern der islamischen Welt herrschen. Die muslimischen Kulturen, so Diner, leisten hartnäckigen Widerstand gegen die "Entzauberung der Welt" durch die Moderne. Das Sakrale, das in diesen Kulturen einen bedeutend höheren Stellenwert innehabe als im säkularisierten Westen, imprägniere viele Kulturen der islamischen Welt gegen politische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen:

Angesichts historischer, sich bewegender Zeit ist das islamische Gesetz katechontisch. Es hält Entwicklung insofern auf, als es darauf angelegt ist, gleichsam alle Lebensbereiche zu durchdringen. Damit unterscheidet es sich im Übrigen nicht von den Vorgaben der anderen Gesetzesreligion: dem Judentum. Auch dem halachischen Gesetz im Judentum ist es aufgetragen, Zeit und damit Geschichte aufzuhalten. Doch im Unterschied zum Islam ist es dem Judentum durch die diasporische Existenz der Juden versagt geblieben, ihnen das Joch des jüdischen Gesetzes in seiner Gänze aufzuerlegen.

Demokratie versus Autokratie

Die israelische Gesellschaft ist eine moderne Gesellschaft - so könnte man zugespitzt formulieren - weil der Einfluss der Orthodoxen ein begrenzter ist und weil die aschkenasischen Gründerväter und Gründermütter des Staates Israel westliche Vorstellungen von Demokratie und Gewaltenteilung mit nach Palästina gebracht haben.

Staaten mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung dagegen organisieren sich in der Regel bis heute auf vormoderne, autokratische Weise. Viele muslimische Gesellschaften sträuben sich Dan Diners Einschätzung nach gegen Wandel und Veränderung.

Die Moderne steht unter einem gleichsam materiellen Primat. Ihr Kernbestand ist der durch technologische Entwicklung angestoßene Wandel. Und der Modus dieses Wandels ist die Beschleunigung.

Widerwillige Literarisierung

Just diese Beschleunigung macht vielen Menschen Angst, nicht nur in unseren Breiten, auch in muslimischen Kulturen. In seinem neuen Buch versucht Dan Diner nun den Nachweis, dass die Veränderungsresistenz islamischer Kulturen ihre Wurzeln im Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit hat.

Im Westen brachte es die Einführung des Buchdrucks um die Mitte des 15. Jahrhunderts mit sich, dass nach etwa fünfzig Jahren um die acht Millionen Bücher aus den Druckerpressen hervorgingen, also bei weitem mehr als alle Kopisten Europas in den tausend Jahren zuvor in mühseliger Handarbeit abgeschrieben haben.

Dagegen ließ die Einführung des Buchdrucks im Osmanischen Reich wie im Einflussbereich des Islam noch dreihundert Jahre auf sich warten. Und auch dann erfolgte Literarisierung und damit die Demokratisierung von Wissen nur halbherzig und - von den Herrschenden aus gesehen - höchst widerwillig. Das zeigt sich Dan Diner zufolge bis heute:

Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass im Jahre 1996 in allen arabischen Ländern zusammen nicht mehr als etwas über 1.900 Titel gedruckt wurden. Dies entspricht etwa 0,8 Prozent der Weltproduktion - und dies bei einem Anteil von etwa neun Prozent der Weltbevölkerung. Auch um die Übersetzung fremdsprachiger Literatur ins Arabische ist es schlecht bestellt. Hier kann nur mit einem Bruchteil dessen aufgewartet werden, was etwa in einem Kleinstaat wie Griechenland in die Landessprache übertragen wird.

Und dabei sind auch die Griechinnen und Griechen alles andere als begeisterte Leser, wie man weiß. Vielleicht auch das eine Spätfolge des Osmanischen Jochs, unter dem das griechische Volk über Jahrhunderte hinweg zu stöhnen hatte.

Pionier Schottland

Im Gegensatz dazu steht etwa das Schottland des 18. Jahrhunderts. Auf eindrucksvolle Weise arbeitet Diner heraus, wie die schottische Aufklärung - die mit Namen mit David Hume und Adam Smith verbunden ist - Rationalismus und Religion, Glauben und Vernunft organisch miteinander verband.

Das Lesen der Bibel war in Schottland auf gut calvinistische Weise schon in den Jahrhunderten zuvor flächendeckend eingeübt worden. Die Leselust der Schottinnen und Schotten richtete sich im 18. Jahrhundert aber auch auf Druckwerke literarischen und wissenschaftlichen Inhalts, wie Dan Diner nachweist. In vielen Dörfern und Gemeinden zwischen Edinburgh und Inverness gab es im 18. Jahrhundert Bücherleih-Stuben. Die Entlehnlisten haben sich bis heute erhalten, und denen ist zu entnehmen, dass es vor allem Bäcker, Schmiede, Steinmetze, Schneider, Fassbinder und Bauern mit ihren Familien waren, die Bücher entlehnten.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert, so Dan Diner, lebten 1,5 Millionen Menschen in Schottland. 20.000 davon ernährten sich ausschließlich vom Schreiben und Publizieren. Kein Wunder, dass die europäische Moderne nicht zuletzt auch von Schottland aus ihren Ausgang nahm. Vielleicht auch kein Zufall, dass James Watt, der Erfinder der Dampfmaschine, Schotte war.

Man wird Dan Diner, dem bekennenden "Westler", nicht in allem zustimmen wollen, was er da in seinen Aufsätzen herausarbeitet und postuliert. Eine anregende Lektüre aber sind seine Texte allemal.

Service

Dan Diner, "Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte", Pantheon Verlag

Wiener Vorlesungen, Dan Diner, "Mit östlichem Blick: Über jüdische Verwandlungen 1750-1950", Dienstag, 16. November 2010, 19:00 Uhr, Rathaus

Random House - Zeitenschwelle
wien.at - Wiener Vorlesung vom 16.11.2010

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