Oper auf historischen Instrumenten

"Originalklang" bei Richard Wagner

Nicht zum ersten Mal: Sir Simon Rattle auf Seitensprung beim britischen Orchestra of the Age of Enlightenment, für Musik von Richard Wagner auf historischen Instrumenten. 2010 stand ein Akt von "Tristan und Isolde" am Programm - aufregend und trotzdem mit gemischtem Resultat.

Es war eine der Besetzungsüberraschungen am Ende der Ära Ioan Holender an der Wiener Staatsoper: Sir Simon Rattle als Dirigent einiger Aufführungen von Richard Wagners "Tristan und Isolde", wie schon 2001 in Amsterdam. Im Orchestergraben im Haus am Ring: das "philharmonische" Wiener Staatsopernorchester, bei dem das Bewusstsein der großen Tradition stets mitschwingt.

Dass es auch anders geht, zeigte Rattle diesen Sommer bei Konzerten im Rahmen der Londoner BBC Proms und im Festspielhaus Baden-Baden, wo er den "Tristan"-Mittelakt mit dem auf historischen Instrumenten spielenden Orchestra of the Age of Enlightenment zum Klingen brachte.

Wagner-Originalklang-Pionier Sir Roger Norrington

Blick zurück in die 1990er Jahre. Die Gurus der damaligen Alte-Musik-Szene - Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner, Christopher Hogwood - haben ihr Repertoire vom Barock allmählich in Richtung Wiener Klassik ausgeweitet, und sobald der Schritt vom 18. ins 19. Jahrhundert getan ist, gibt es kein Halten mehr. Gardiner ist mit seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique sogar schon bei Hector Berlioz und Schumann angekommen, auch Bruckner haben die "Originalklang"-Maestri bereits im Visier.

Alles ist neu, alles ist aufregend, das Publikum fragt sich allmählich: Wie weit kann es nun noch gehen? Da prescht Roger Norrington, der "Papst" des Vibrato-losen Streichertons (er verficht das Prinzip bis heute radikal, bis über die Bruckner-Symphonien hinaus) mit einer CD vor, auf der er gemeinsam mit seinen London Classical Players vor allem Orchestermusik von Richard Wagner in einem Klangbild vorstellt, das dem der Wiener Philharmoniker von etwa 1880 entspricht.

Wie nasal-hell die Blechbläser klingen! Wie springlebendig das Holz! Überhaupt lassen sich die Blasinstrumente mit ihren individuellen Klangtimbres viel leichter voneinander unterscheiden. Die Streicher haben klarerweise durchgehend Darmseiten aufgezogen, und Norrington zögert nicht, der "Rienzi"-Ouvertüre, den "Tristan"-, "Meistersinger"- und "Parsifal"-Vorspielen die Riesen-Streicherbesetzung zu gönnen, von der Wagner geträumt hat.

"Meistersinger"-Vorspiel mit Roger Norrington und den London Classical Players

"Meistersinger"-Vorspiel in acht Minuten

Zum Klang kommen Spielweise, Tempo, Interpretation: Das transparentere Klangbild erlaubt es Roger Norrington und den London Classical Players - im Aufnahmestudio! -, auch viel mehr an Artikulations-Details zwischen Legato und Staccato hörbar zu machen. Norrington orientiert sich an einer Wagner-Notiz, der zufolge er selbst als Dirigent etwa für das "Meistersinger"-Vorspiel nicht mehr als acht Minuten brauchte - was für heutige Ohren wahnwitzig schnell ist.

(Richard Wagner beklagte sich immer wieder darüber, seine Musik würde stets "zu langsam" gespielt; Aufzeichnungen aus dem Bayreuther Festspielhaus belegen, dass nach Wagners Tod die Pathetisierung seiner Musik durch immer getragenere Wiedergaben voll einsetzte.) Leichtigkeit, "Luftigkeit", Durchhörbarkeit, Aufhellung sind oberste Ziele.

Rattle mit "Tristan und Isolde"

Alles das ist vorbildlich geworden für die wenigen Dirigenten und Ensembles, die Sir Roger Norrington mit Wagner-"Originalklang"-Experimenten gefolgt sind, ob nun Bruno Weil mit der Cappella Coloniensis des WDR (bei einer Einspielung des "Fliegenden Holländer") oder jetzt wieder Sir Simon Rattle mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment, die einander von Mozart-Opern und einer Weber-"Euryanthe" beim Glyndebourne Festival bereits kennen. Denn Rattle hat sich durch seine Chef-Positionen, zunächst beim City of Birmingham Symphony Orchestra und aktuell bei den Berliner Philharmonikern, nicht davon abhalten lassen, hin und wieder zugunsten von "Originalklang" künstlerisch fremd zu gehen.

Sogar am Beginn des in Aix-en-Provence und Salzburg groß aufgezogenen "Ring-des-Nibelungen"-Projekts mit den "Berlinern" gab es auf diese Weise mit dem ersten Teil der "Ring"-Tetralogie auf historischem Instrumentarium eine konzertante Parallelaktion zum "philharmonischen" "Rheingold".

Violeta Urmana als Isolde unter Sir Simon Rattle

Wo bleiben die "Originalklang"-Singstimmen?

"Isoldes fiebernde Ungeduld (...) will in Wagners Vorstellung und Partitur 'Sehr lebhaft' Klang werden. Und tat es hier so reich an Klangfarben und Kontrasten, mit fliegendem Atem, dass damit für den ganzen Akt ein Fanal gefunden war", urteilte die "FAZ" über den nächsten Schritt dieser vorsichtigen Erkundungstour des "originalen" Wagner, den zweiten Aufzug von "Tristan und Isolde".

Allerdings: Sowohl die Londoner Royal Albert Hall als auch das Festspielhaus Baden-Baden sind große Säle, teils sogar sehr große, und aus Sir Simon Rattle wird nicht plötzlich ein Purist, wenn er "Originalklang"-Instrumente dirigiert. Wo "fortissimo" steht, ist auch "forte-fortissimo" erlaubt, und es kann passieren, dass es bei Tutti-Stellen im nicht auf Wagner "eingeschossenen" Orchestra of the Age of Enlightenment tumultös wird.

Gut, dass Sängerinnen und Sänger mit kräftigen Kehlen am Podium stehen, die das alles noch übertönen können, teils mit letzter Kraft! (Ben Heppner als Tristan, Violeta Urmana als Isolde.) - Gut? Eher nicht. Richard Wagners Sängerideal war zu seinen Lebzeiten leichter zu treffen als heute, weil es "Wagner-Sänger" noch nicht gab, sondern nur Solistinnen und Solisten, die primär aus dem italienischen Fach kamen.

Aus dem Agieren geborene verständnisvolle Diktion plus "Belcanto"-Gesang, so wollte Wagner seine Gesangspartien interpretiert. Was hätte er dazu gesagt, dass heute bei Gesangswettbewerben jede "große" Stimme mit ausladendem Vibrato sogleich dem "Wagner-Fach" zugeordnet wird? Solange nicht auch im Sängerischen die Wiedergeburt des "Originalklangs" Priorität bekommt, solange "historisch informiertes" Instrumentalspiel zwangsweise mit stimmlichem "Großformat"-Wagner Hand in Hand geht, bleiben Experimente wie der "Enlightenment"-"Tristan" eine halbe Sache.