Vom Wandel einer Kulturtechnik

Das lesende Gehirn

Was geschieht in unseren Gehirnen, wenn wir lesen? Und was passiert, wenn wir immer weniger lesen? Wie verändert das Internet unsere Gehirne? Diese Fragen beantwortet die amerikanische Sprachwissenschaftlerin Maryanne Wolf in ihrem aktuellen Buch "Das lesende Gehirn".

Keine Frage der Gene

"Wir wurden nicht als Leseratten geboren." Mit diesem ebenso schlichten wie bedeutungsvollen ersten Satz zieht Wolf die Leserinnen und Leser mitten hinein in ihr Buch, indem sie das scheinbar Alltägliche in ganz neuem Licht erscheinen lässt. "Das führt uns zu einer wichtigen Tatsache: In unserem Körper haben wir kein einziges Gen für das Lesen", erklärt Wolf, die an der Tufts University in Boston das Center for Reading and Language Research leitet

Anders als Hören und Sprechen, für die wir ein genetisches Programm besitzen, müssen wir das Lesen also erst lernen. Wie diese Fähigkeit sich im Lauf der Menschheitsgeschichte ausbildete, wie Kinder heute lesen lernen und wie sich dieses Lernen von Sprache zu Sprache unterscheidet - das beschreibt Wolf mit vielen Beispielen aus dem Alltag und der Literatur.

Areale und Schaltkreise

Anschaulich erklärt sie auch die komplexen neuronalen Vorgänge, die uns das Lesen erst ermöglichen: "Das Lesen zeigt uns, dass das menschliche Gehirn eine einzigartige Fähigkeit besitzt, über sich hinaus zu denken und durch seine Plastizität etwas Neues zu lernen. Diese Plastizität erlaubt es dem Gehirn, quasi neue Schaltkreise auszubilden, die bisher getrennte Gehirnareale neu verbinden. Es gibt zum Beispiel einen Schaltkreis für das Fahrradfahren und einen für das Lesen - dieser Schaltkreis ist im wahrsten Sinn eine Mischung aus Sehen, Sprache, Gedanken, Erinnerung, Aufmerksamkeit und Gefühlen."

Wolf spricht von einer "offenen Architektur" des Gehirns, die die Leserinnen und Leser nicht nur physiologisch, sondern auch intellektuell und gefühlsmäßig regelrecht über sich hinauswachsen lässt: "Beim Lesen aktivieren wir verschiedene Areale unserer beiden Hirnhälften, um das alles zusammenzubringen. Diese Prozesse verbinden unser bisheriges Wissen mit dem Text. So kommen wir zu Ableitungen, Analogien und kritischer Analyse – also zu unseren eigenen Gedanken und Phantasien, zu Einsichten, Selbstreflexion und neuen Erfindungen."

Den ganzen Vorgang können wir als einen Verständigungsprozess bezeichnen", so Wolf weiter. "Ich nenne ihn 'tiefgründiges Lesen'. Marcel Proust hat das einmal wunderbar formuliert: Wir gehen über die Weisheit des Autors hinaus, um zu unserer eigenen zu gelangen."

Um beim Lesen ein Wort zu entschlüsseln und in einen neuen Zusammenhang einzubetten, bleibt unserem Gehirn nur ein Bruchteil von Sekunden. Dies kann nur gelingen, wenn die dafür notwendigen Verknüpfungsprozesse so gründlich gelernt und so oft wiederholt wurden, bis sie automatisch ablaufen.

Werkzeug des Denkens

Wolf, selbst Mutter eines leseschwachen Sohnes, plädiert deshalb nachdrücklich dafür, dass ein Kind möglichst früh ans Lesen herangeführt wird - durch Vorlesen im Säuglingsalter und später durch gezielte Förderung in der Schule. Denn Lesen formt nicht nur unser Gehirn, es formt auch unsere Persönlichkeit und die Rolle, die wir in der Gesellschaft spielen.

Für Wolf ist Lesen das mächtigste Werkzeug, das unser Geist besitzt, um selbstständig zu denken. Diese große Kulturleistung sieht die Wissenschaftlerin jedoch bedroht. Sie befürchtet, durch die zunehmende Verdrängung des gedruckten Wortes durch das Internet könnten wir diese wertvolle Fähigkeit allmählich verlieren:

"Das Lesen im Internet fördert die Zerstreuung. Es animiert dazu, zum nächsten Stück Information weiter zu klicken und zum nächsten und zum nächsten. Dadurch ist es ein sehr effizientes Mittel, um Informationen zu sammeln. Aber es demotiviert den Leser, tiefer als unter die Oberfläche zu gehen. Das Internet fördert zwar Unterhaltung und Wissen, erschwert jedoch Denken als Teil des Lesens."

Von Analog zu Digital

Ein Schlüsselerlebnis für Wolf war, als sie nach Jahren wieder einmal zu Hermann Hesses "Glasperlenspiel" griff, einem ihrer Lieblingsbücher, das sie früher geradezu verschlungen hatte. Erschrocken stellte sie fest, dass sie es so hastig überflog wie ihre Emails. Anders als damals konnte sie sich nun nicht mehr auf den anspruchsvollen Text konzentrieren.

Dieses persönliche Erlebnis ließ sie weiterforschen und zu der Überzeugung kommen: War es zu Sokrates' Zeiten der Übergang von der gesprochenen zur geschriebenen Sprache, so stehen wir heute an der Schwelle vom analogen zum digitalen Lesen.

"Ich nenne das die Google-Mentalität. Die meisten von uns googeln mehrmals täglich. Aber wir lesen dabei nur die erste Hälfte der ersten Seite. Wir lesen sogar im Internet nicht mehr tiefgründig", sagt Wolf. "Ich befürchte deshalb sehr, dass wir oberflächliche Leser werden und uns mit oberflächlichem Wissen zufrieden geben. Dabei sorge ich mich weniger um die Erwachsenen. Sie können zwischen Büchern und Internet wählen, weil sie noch gut ausgeprägte Schaltkreise für das Lesen entwickelt haben - Kinder haben die nicht mehr."

Leidenschaft und Logik

So leidenschaftlich und logisch Wolf auch argumentiert: Wissenschaftlich belegen kann sie ihre These bislang nicht. Das bildgebende Verfahren der Hirnforschung zeigt zwar deutlich, wie sich das Gehirn eines versierten Lesers von dem eines Nichtlesers oder eines Leseanfängers unterscheidet. Doch noch ist es der Wissenschaft nicht gelungen, die Qualität der Gedanken beim Lesen und die Unterschiede zwischen den Lesearten nachzuweisen. Auch gibt es noch keine Langzeitstudien über die "Internet-Generation".

Mit ihrem Buch will Wolf die Ergebnisse ihrer eigenen Forschungen und der anderer Sprachwissenschaftler einer allgemeinen Öffentlichkeit verständlich machen. Die wissenschaftlichen Fußnoten sind deshalb an das Ende der Kapitel verbannt. Hilfreich sind auch die zahlreichen Abbildungen.

Von den unvermeidlichen Fachwörtern und teils langatmigen Ausführungen sollte sich niemand abschrecken lassen. Maryanne Wolf ist ein brandaktuelles und bei aller fachlichen Fundiertheit sehr persönliches und unterhaltsames Plädoyer für das Lesen gelungen.

Service

Maryanne Wolf, "Das lesende Gehirn. Wie der Mensch zum Lesen kam - und was es in unseren Köpfen bewirkt", aus dem Englischen übersetzt von Martina Wiese, Spektrum Akademischer Verlag

Springer - Das lesende Gehirn