Eine andere Organgeschichte

Dein Herz

Schweres Leid, tiefer Schmerz, maßlose Trauer nach einem bitteren Verlust: das gebrochene Herz. Die große Liebe ist gegangen, Fassungslosigkeit und Verzweiflung sind geblieben. "Das Herz fühlt", lautet die zentrale Aussage von Dietrich Grönemeyers neuem Buch.

Mehr als nur ein Muskel

Das gebrochene Herz: Das ist eine Metapher für eine emotionale Befindlichkeit, für ein zerstörtes seelisches Gleichgewicht. Das Herz selbst geht dabei nicht entzwei, organisch bleibt alles intakt. Oder vielleicht doch nicht? Neuerdings sprechen nicht nur Psychologen vom "gebrochenen Herzen", sondern auch Ärzte. Das Broken-Heart-Syndrom - ein Infarkt, der keiner ist - verläuft in fünf von hundert Fällen tödlich.

"Das Broken-Heart-Syndrom ist ein Syndrom, wo der Körper mit dem Stress-Hormon Adrenalin überschüttet wird", erklärt Dietrich Grönemeyer, "Das Herz weitet sich aus, es sackt ganz viel Blut rein und dann kann zu wenig Blut in den Körper transportiert werden, und das kann bedrohlich werden, weil die anderen Organe dann unterversorgt werden. Die Psychokardiologie hat zum ersten Mal festgestellt, dass das Herz fühlt, dass es auf körperliche Anspannung, vor allem auf psychosomatische Anspannungen, ganz stark reagiert."

"Das Herz fühlt" lautet die zentrale Aussage von Dietrich Grönemeyers neuem Buch - mit dem Titel "Dein Herz. Eine andere Organgeschichte". Und diese Erkenntnis, so der Autor, sei keine neue, sondern eine neu- bzw. wiederzuentdeckende. Über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hätten die Menschen im Herzen mehr gesehen als nur ein Organ, einen Muskel.

"Vielleicht ist das Herz ja viel wichtiger, als wir es alle nehmen, weil es die menschliche Geschichte von Anfang an geprägt hat und Kultur geschaffen hat. Und von daher sollten wir Gefühle in der Medizin viel wertvoller erachten und viel mehr in den Alltag eines medizinischen Behandlungsplans integrieren", erzählt Grönemeyer. "Darum geht es mir eigentlich: Der Medizin die Seele zurückzugeben, und zu verhindern, dass wir nur noch das Chassis, also das Fahrwerk des menschlichen Körpers, behandeln und dabei den Einzelnen, das Individuum aus dem Blick verlieren."

Viele Rollen und Geschichten

Um diese Zusammenhänge zwischen Herz und Seele umfassend und nicht nur aus schulmedizinischer Sicht zu beleuchten, spannt Grönemeyer einen weiten Bogen, schreibt in seinem knapp 400 Seiten starken, reich bebilderten Buch nicht nur über Herzfunktionen und Herzerkrankungen, ihre Diagnostik und Therapie, sondern auch über die Rolle des Herzens in der Kulturgeschichte, über das Herz in Religion und Ritus, in Literatur, Philosophie und Kunst. Dass ein Mediziner, der sich vor allem im Bereich der Radiologie hervorgetan hat, sich so intensiv mit dem Herzen befasst, hat persönliche Gründe.

"Als mein Herz in alle Richtungen zu schlagen begann und ich Todesangst hatte durch eine Herzmuskel-Entzündung, die mich erwischt hatte, habe ich im Heilungsprozess festgestellt, dass wir in der Medizin viel zu sehr den Körper behandeln", erzählt der Autor. "Wir reparieren das Herz, wir transplantieren es möglicherweise, wir geben Medikamente, schieben einen Katheder. Aber Herzerkrankungen haben wie auch in meinem Fall nicht nur etwas mit einer körperlichen Erkrankung zu tun, sondern sind ganz stark von unserer Gefühlswelt abhängig."

Jenseits naturwissenschaftlicher Grenzen

"Das Organ hat seine eigene Geschichte", weiß Grönemeyer. Um sie zu verstehen, um herauszufinden, was das Herz überhaupt ist, was es "mit unserer Seele und den Gefühlen, dem Glück der Liebe und den Ängsten des Todes zu tun hat", müsse man die Grenzen der Naturwissenschaft überschreiten.

Wer dies tut, begreift schnell: "Keines seiner Organe hat den Menschen über die Jahrtausende so beschäftigt wie das Herz". Es wurde und wird als Mitte des Lebens, als Motor des Daseins, als Kraftquell der Existenz angesehen, was befremdlich wirkende Rituale nicht ausschließt, wie sie zum Beispiel die Azteken praktizierten.

"Das Herz wurde herausgerissen, schlagend, und dem Sonnengott geopfert, weil man davon ausging, das Herz sei Mittelpunkt des menschlichen Kosmos, die Sonne des allgemeinen Kosmos, und damit die Sonne am nächsten Tag wieder aufgeht, hat man das Herz von den schönsten Jungen und Mädels dem Sonnengott geopfert", beschreibt Grönemeyer. "Es spielte eine wesentliche Rolle - auch bei den Ägyptern: Das Herz wurde besonders einbalsamiert und dem toten Gott im Übergang in das Totenreich vorgelegt und gewogen, und so wurde herausgefunden, ob man rechtschaffen gelebt hat oder nicht."

Stand ursprünglich das Herz nur für körperliche Kraft, so wurde es später zum Sitz der Seele deklariert - und zum Zentrum des Glaubens. Es spielt in allen Religionen die zentrale Rolle, erzählt Grönemeyer: "Bei uns ist es im Christentum das liebende Herz, von Augustinus vor allem in der Verbindung zum Göttlichen geprägt. Die ganze Schöpfung im Herzen zu tragen spielt im Hinduismus eine ganz wesentliche Rolle. Oder nehmen wir den Buddhismus, wo das ganze Universum im Herzen Buddhas existiert."

Mythos versus Medizin?

Wir fühlen unser Herz wie ein Lebewesen, sagt Grönemeyer. Deswegen beschäftigt es uns auch so. Der Herzschlag begleitet unsere Erlebnisse - und reagiert auf Freude und Erschrecken, auf Angst und Entspannung: "Das Herz ist verbunden mit vegetativen Nerven, mit vegetativen, unbewussten Nervenbahnen, teilweise 10.000 Kilometer lang, die durch unseren ganzen Körper gehen und mit unserem Gehirn verbunden sind, vor allem mit unserem emotionalen Gehirn. Und das so, dass von da die Koppelung zwischen Gefühl und körperlicher Reaktion passiert. Das heißt, wenn man sich vor Angst in die Hose macht, schlägt auf der einen Seite das Herz schneller, gleichzeitig hinterlässt man seinen Urin", erklärt der Radiologe.

Aber meinen der Ethnologe, der vom Herzopfer, und der Mediziner, der vom Herzinfarkt spricht, der Religionswissenschaftler, der vom geöffneten Herzen Christi, dem die Liebe Gottes entströme, und der Kardiologe, der von Koronarangiographie spricht, tatsächlich ein- und dasselbe Herz? Ist nicht Grönemeyers Versuch einer Gesamtschau des Herzens nicht so etwas wie ein aus der Aversion gegen die Unzulänglichkeiten der Schulmedizin geborenes Projekt der Re-Mythifizierung eines im wahrsten Sinne des Wortes sagenhaften Organs? Kommen da nicht empirische und metaphysische Betrachtungsweise durcheinander?

"Es kann gut möglich sein, dass wir zu viel ins Herz hinein interpretieren", bestätigt Grönemeyer. "Auf der anderen Seite gibt es die Neurokardiologie, die sehr stark elektronische Forschung rund um das Herz gemacht hat und herausgefunden hat, dass das Herz auch eigene Hormone produzieren kann, dass das Herz auch selbst auf das Gehirn einwirken kann, dass also eine Rückkopplung passiert. Ob die Seele im Herzen liegt, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich fühle sie dort, vielleicht aber nur, weil ich das Gehirn nicht fühle."

Diagnosen und Therapien

Nun geht es in Dietrich Grönemeyers Buch nicht nur um das Herz bei den Azteken, den alten Griechen oder im Taoismus, nicht nur um das Herz in Bildern und Gedichten da Vincis oder Erich Kästners. Es geht - und das macht den größten, wenn auch nicht den originellsten und spannendsten Teil der Untersuchung aus - um Herz- und Blutdruckerkrankungen, um Schlaganfall und Herzrhythmusstörungen, um Untersuchungsmethoden, Eingriffe und Operationen, um Ernährungstipps und Medikamente.

Das Buch beschreibt die gelösten und ungelösten Rätsel der Herzsteuerung, erklärt, warum Sexualität gut, Stress nicht unbedingt schlecht und Schnarchen mitunter nicht ungefährlich sein kann, und präsentiert Ultraschallbilder, Tabellen, allgemeine Kennwerte und Selbsthilfemaßnahmen.

Und so anregend sich die kulturhistorischen Exkursionen lesen, so spröde informieren die wohl eher zum Nachschlagen gedachten Aufzählungen von Erkrankungen, ihrer Prävention und Behandlung, die dem geradezu enzyklopädischen Anspruch des Buches geschuldet sind und dem aktuellen Stand der Medizin Rechnung tragen. Wobei der Autor immer wieder deutlich macht, das für ihn das Herz mehr ist als nur ein äußerst ausdauernder Muskel, der pro Tag rund 100.000mal schlägt und dabei 7.200 Liter Blut in den Kreislauf pumpt. Sondern eben ein fühlendes Organ.

Aufruf zur Selbstheilung

"Schwere Ereignisse können wir nicht ausblenden", sagt Grönemeyer, "aber das besonnene Umgehen damit, und zu wissen, auch eine schwere Erkrankung, ein schweres Leid kannst du überleben, indem du dich danach wieder positiv aufstellst. Das sollten wir eigentlich wissen: Dass man es trotzdem noch in der eigenen Hand hat, wie das Leben weiterläuft."

Wer sein Herz kennt, kann auch sein Herz kurieren, wenn es sein muss, auch ohne Arzt. Auch und gerade Phänomene wie "Job Strain" - übermäßige, auf das Herz sich auswirkende Belastungen durch Stress im Beruf - oder "Broken Heart". "Ein Herz kann man nicht reparier'n, ist es einmal entzwei, dann ist alles vorbei", sang einst Udo Lindenberg, um schließlich doch eine Medizin gegen gebrochene Herzen zu verraten: die Liebe. Auch dafür ist das Herz das Symbol.

Service

Dietrich Grönemeyer liest am Freitag, 19. November 2010 von 15:30 Uhr bis 16:15 Uhr auf der Buch Wien, ORF-Bühne. Messeticket erforderlich.

Dietrich Grönemeyer, "Dein Herz. Einen andere Organgeschichte", S. Fischer Verlag

Fischer Verlage - Dein Herz
Buch Wien