Roman von Janne Teller

Nichts

Nichts bedeutet irgendetwas, das weiß ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden. Mit diesen Worten packt der Schüler Pierre Anthon am ersten Schultag nach den Ferien seine Sachen zusammen.

Pierre Anthon verlässt den Unterricht - um fortan auf einem Baum zu sitzen und von dort aus seine Mitschülerinnen zu bewerfen - nicht nur mit den unreifen Früchten des Baumes, sondern vielmehr mit seinen neuesten Erkenntnissen.

"Alles ist egal" schrie er eines Tages. "Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist es mit allem." (...) "In wenigen Jahren seid ihr alle tot und vergessen und nichts, also könnt ihr genauso gut sofort damit anfangen, euch darin zu üben." (...) Das Ganze ist nichts weiter als ein Spiel, das nur darauf hinausläuft, so zu tun als ob - und eben genau dabei der Beste zu sein.

Der Berg der Bedeutung

Die anderen Siebtklässler sind äußerst verstört. Sie glauben an ihre Zukunft als bedeutende Personen und wollen den nihilistischen Pierre Anthon davon überzeugen, dass es sehr wohl Dinge mit Bedeutung gibt.

Diese sammeln sie in einem stillgelegten Sägewerk. Erst harmlose Sachen wie Bücher, Ohrringe oder die grünen Sandalen der Erzählerin Agnes: halbhohe grüne Sandalen, die Agnes nach monatelanger Bettelei letztlich im Schlussverkauf von ihrer Mutter erhalten hat.

Wer etwas für den Berg der Bedeutung hergeben musste, darf jeweils das nächste Opfer fordern. Die Jugendlichen werden immer böser und grausamer - je stärker der Schmerz, desto härter der Verlust, desto größer die Bedeutung.

Opfer suchen Opfer

Schnell eskaliert die Sammlerei. Da wird ein Gebetsteppich gefordert, der Sarg des kleinen Bruders und die Unschuld eines Mädchens. In ihrem Bedeutungsfanatismus und unter Gruppenzwang scheinen die Jugendlichen jedes Mitgefühl zu verlieren - notfalls schaut man auf sein eigenes Opfer, sieht die grünen Sandalen, und findet darin alles andere gerechtfertigt.

Und als sie zwei Stunden lang geweint hatte und immer noch untröstlich war, hätte ich es fast bereut und dachte, sie hätte vielleicht recht. Aber dann sah ich wieder meine halbhohen grünen Sandalen oben auf dem Berg und gab nicht nach.

Erst als einem Jungen der kleine Finger abgesägt wird, erfahren die Erwachsenen von den Vorgängen im stillgelegten Sägewerk.

Weniger grausam als ein Krimi

Es hagelt Strafen und gibt massiven Ärger - und plötzlich auch mediales Interesse an diesem Berg von Bedeutung. Von Kunst ist die Rede. Von einer neuen und originellen Auslegung der Bedeutung des Lebens. Ein New Yorker Museum will das Zeitdokument kaufen. Alle sind sie beeindruckt - alle bis auf einen: Pierre Anthon. Wenn der Berg schon so bedeutend ist - wie können sie ihn dann verkaufen?

Das Buch endet tragisch. Kritiker werfen Janne Teller vor, ein grausames Buch geschrieben zu haben. Das verwundert die Dänin, mit ihren deutschsprachigen Vorfahren:

"Ich verstehe es nicht, das Buch war eine Geschichte - ich habe nicht gedacht, dass das eine große Provokation sei. Das war die Geschichte, die ich gern mit 14 oder 15 gelesen hätte. (...) Da gibt es viele Leute, die sagen, es sind die Grausamkeiten, dafür sollte man es nicht Kindern geben - die dürfen es nicht lesen, wegen dieser Grausamkeiten. Aber da gibt es wirklich nicht viele Grausamkeiten, wenn man das Buch richtig anschaut, viel weniger als in Krimis und Computerspielen heute. Es ist mehr die Atmosphäre in dem Buch." Eine Atmosphäre, die für viele zu realistisch ist.

Das Leben fühlen

Janne Teller hat das Buch vor zehn Jahren in Dänemark geschrieben - Castingshows wie "The Next Topmodel", die hier und da gesuchten Superstars und die "Helden von Morgen" gab es damals noch nicht in dem Ausmaß - mehr denn je sei das Buch aber jetzt aktuell, meint Janne Teller:

"Heute muss man berühmt sein, damit man sein Dasein bestätigt hat. Das ist ein Fehler; nur wenn man das Leben fühlt, dann existiert man. Und man muss von innen leben nicht von den Augen der andern. Ich glaube, mehr und mehr junge Leute fühlen das, aber sie wissen dann nicht, wohin sie gehen können. Es ist sehr schwierig, Erfolg in dieser modernen Gesellschaft zu haben."

Man müsse sich also nicht wundern, wenn Jugendliche Essstörungen haben, sich selbst verletzen, Drogen oder Antidepressiva nehmen, resümiert Janne Teller.

Die Angst der Erwachsenen vor den Fragen

Die Antworten des nihilistischen Pierre Anthon an seine zornige Mitschülerin, die weltberühmt werden will, lesen sich denn auch wie Burn-Out-Symptome.

Aber du wirst feststellen, dass du ein Clown in irgendeinem überflüssigen Zirkus bist, wo alle versuchen, sich gegenseitig vorzumachen, es sei lebensnotwendig, in einem Jahr auf diese Weise gekleidet zu sein und im nächsten auf eine andere. Und du wirst feststellen, dass Ruhm und die große Welt außerhalb von dir sind, dass aber innen nichts ist und dass es auch so bleiben wird, egal was du tust.

Den Sinn des Lebens hinterfragen, Bedeutung analysieren - das sei etwas, was man mit Jugendlichen machen müsse. Angst vor diesen Fragen hätten nicht die Jugendlichen, sondern die Erwachsenen, die könnten mit dem Thema des Buches weit weniger gut umgehen als Jugendliche, erzählt Janne Teller.

Land der Doppelbödigkeit

Wenn ihr Roman "Nichts" auch in Österreichs Schulen Einzug fände, würde sich Janne Teller besonders freuen - schließlich ist ihre Mutter Kärntnerin. Leider habe man daheim nie Deutsch mit ihr geredet erklärt sie mit einem charmanten Akzent. "Nichts" trifft besonders auf Österreich zu, denn dort sieht sie eine gewisse Doppelbödigkeit - einerseits die fantastische Landschaft, die großartige Musik, die schönen Häuser, anderseits eine undefinierbare Dunkelheit:

"Da gibt's diese zwei sehr verschiedenen Seiten und bei 'Nichts' konnte man auch dieses diskutieren - warum gibt es so verschiedenen Seiten von allem?"

Eine Antwort auf die großen Fragen des Lebens weiß Janne Teller auch nicht, aber sie hört immer noch manchmal die Stimme von Pierre Anthon - mit ihm habe sie sich mittlerweile angefreundet, lacht sie. Und weil sie ihm nicht antworten kann, wisse sie, wie fantastisch das Leben ist.

Service

Janne Teller, "Nichts. Was im Leben wichtig ist", aus dem Dänischen übersetzt von Sigrid Engeler, Hanser Verlag

Hanser - Nichts