Amartya Sen

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Gedanken des Nobelpreisträgers Amartya Sen

Die Idee der Gerechtigkeit

Dass die Welt ungerecht ist, empfinden die meisten Menschen so. Auf der einen Seite sterben jeden Tag Tausende Menschen, weil sie kein sauberes Trinkwasser haben, oder unter Krankheiten leiden, die für wenige Euro zu heilen wären. Gleichzeitig häufen sich Vermögen. Milliarden fließen in die Rüstung, bei Sozialausgaben wird gespart.

Die "Idee der Gerechtigkeit" ist aktuelles Thema und unter diesem Titel hat der indische Wirtschaftsnobelpreisträger sein neuestes Buch vorgelegt.

Eine Warnung gleich vorweg. "Die Idee der Gerechtigkeit" ist kein leichtes Buch. Und wer sich davon einen Leitfaden mit konkreten Vorschlägen erwartet, wie man die Welt gerechter gestalten könnte, wird wohl enttäuscht werden. Wie könnte man zum Beispiel dafür sorgen, dass nicht die heutigen Erdbewohner den Planeten so sehr ausplündern, dass künftige Generationen zwar Klimawandel und Artenschwund erben, aber nur noch einen Bruchteil der natürlichen Ressourcen? Fragen dieser Art bleiben hier unbeantwortet.

Keine allgemeingültige Gerechtigkeit praktikabel

Das Gefühl, dass vieles in der Welt ungerecht ist, bildet den Ausgangspunkt für Amartya Sens Nachdenken über Gerechtigkeit. Doch Sen will überprüfen, ob sein Gefühl vernünftigem Nachdenken standhält. Er macht sich also auf einen 450 Seiten langen Weg. Zuerst geht er die Wegstrecken ab, die Gerechtigkeitsdenker wie zum Beispiel Adam Smith vor ihm beschritten haben, und folgt dabei insbesondere den Spuren John Rawls. Der 2002 verstorbene Harvard-Professor gilt mit seinen Beiträgen zur Gerechtigkeit als einflussreichster Denker der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.

Der heute 77-jährige Amartya Sen lernte John Rawls Ende der 1960er Jahre in Harvard kennen. Rawls sah die Grundbedingung für Gerechtigkeit in der Errichtung gerechter Institutionen. Doch Sen kommt zu dem Schluss, dass eine allgemeingültige, er nennt es "transzendentale" Theorie der Gerechtigkeit nicht praktikabel ist. Denn es gibt mehrere solche Theorien und sie widersprechen einander. Er veranschaulicht dies am Beispiel von drei Kindern, die sich um eine Flöte streiten.

Wem gebührt die Flöte?

Anne verlangt das Instrument für sich, da sie als Einzige von den Dreien Flöte spielen könne. Wenn das alles ist, was Sie wissen, hätten sie gute Gründe, dem ersten Kind die Flöte zu geben.

In einem alternativen Szenario meldet sich Bob und verteidigt seinen Anspruch auf die Flöte mit dem Hinweis, er als Einziger von den Dreien sei so arm, dass er keine eigenen Spielzeuge besitze. Die anderen räumen ein, dass sie reicher sind. Wenn Sie nur Bob und keins der anderen Kinder gehört hätten, würde sie sein Argument überzeugen.

Nun meldet sich Clara zu Wort und erklärt, dass sie viele Monate lang fleißig gearbeitet hat, um die Flöte selbst zu bauen. Die anderen bestätigen dies. Wenn sie nur Claras Erklärung gehört hätten, wären Sie vielleicht geneigt, ihren Anspruch anzuerkennen.


Sen zeigt, dass Bob, das ärmste Kind, die Unterstützung der ökonomischen Egalitarier erhielte, die es für gerecht halten, wirtschaftliche Unterschiede möglichst auszugleichen. Clara, die Flötenbauerin, hätte die Libertären auf ihrer Seite, für die Gerechtigkeit dann gegeben ist, wenn derjenige, der etwas produziert hat, auch darüber als Eigentum verfügen kann. Ein Utilitarist hingegen würde Anne die Flöte zusprechen, da sie als Flötistin den größten Nutzen aus dem Instrument ziehen würde.

Für sämtliche unterschiedlichen Lösungen sprechen gewichtige Argumente, und wir können möglicherweise keines der alternativen Argumente ohne eine gewisse Willkür über die anderen stellen. Es kann sein, dass es tatsächlich keine erkennbare vollkommen gerechte soziale Regelung gibt, aus der eine unparteiische Einigung hervorginge.

Öffentlicher Vernunftgebrauch

Sen ist angesichts der sich widersprechenden Lösungen keineswegs verzweifelt. Er kommt zu dem Schluss, dass allgemeingültige Regelungen dieser Art gar nicht nötig sind.

Wenn eine Theorie der Gerechtigkeit Leitfaden für die rationale Wahl von Grundsätzen, Strategien oder Institutionen sein soll, dann ist die Bestimmung von vollkommen gerechten sozialen Regelungen weder notwendig noch hinreichend.

Für Sen ist es viel wichtiger durch öffentlichen Vernunftgebrauch - damit meint er demokratisch zustande gekommene Entscheidungen - eine Einigung zu erzielen. Und zwar über eine Rangfolge von Handlungsalternativen, die tatsächlich verwirklicht werden können. Vollkommene Gerechtigkeit hat für ihn keine große Bedeutung, entscheidend sei es viel mehr, die konkreten Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen im Blick zu haben.

Eine auf Verwirklichung gerichtete Perspektive macht es auch leichter zu verstehen, warum es wichtig ist, offenkundigem Unrecht in der Welt vorzubeugen, statt nach dem vollkommenen Gerechten zu suchen. Als die Menschen für die Abschaffung der Sklaverei kämpften, arbeiteten sie nicht in der Illusion, dass die Welt durch die Abschaffung der Sklaverei vollkommen gerecht würde. Vielmehr gingen sie davon aus, dass eine Gesellschaft, die Sklaverei duldete, vollkommen ungerecht sei.

Keine Gerechtigkeit ohne Demokratie

Großteils bewegt sich Sen auf der theoretischen Ebene, konkreter wird er dort, wo er auf eigene empirische Untersuchungen zurückgreift, etwa auf seine bahnbrechenden Forschungen zu Hungerkatastrophen. Ausgehend von einer Hungersnot in Bengalen, die er selbst am Ende der britischen Kolonialzeit miterlebte, hat Sen gezeigt, dass es in funktionierenden Demokratien bisher noch nie zu Hungersnöten gekommen ist.

Demokratische Gesellschaften sind für Sen eine Grundbedingung für Gerechtigkeit. Dies ist einer der wenigen Punkte, wo sich Sen auch zu aktuellen politischen Fragen äußert.

Die Überzeugung, dass eine Demokratie nur im Westen und nirgendwo sonst auf der Welt gedeihen konnte, hat viele Anhänger und wird häufig geäußert. Man nutzt sie auch als Erklärung für gegenwärtige Ereignisse; zum Bespiel wird die Schuld an den ungeheuren Schwierigkeiten und Problemen im Nachkriegs-Irak weniger darin gesehen, dass die militärische Intervention schlecht vorbereitet und falsch begründet war, sondern sie wird einer bloß imaginierten Unfähigkeit des Irak zugeschrieben: Demokratie und öffentlicher Gebrauch der Vernunft seien seiner Kultur und Tradition fremd und deshalb für den Irak wie für andere nichtwestliche Länder ungeeignet.

Per Sackgassen und Umwegen ans Ziel

Dem hält Sen entgegen, dass es nicht nur im Westen partizipatorische Regierungsformen gegeben hat und dass sie bis heute fast überall auf der Welt eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben.

Hätte man das nicht auch ohne Sens Buch gewusst? Vermutlich schon, aber man wäre sich seines Wissens nicht so sicher gewesen. Man kann die Intuition von Gerechtigkeit mit einem althergebrachten Wanderweg vergleichen. Wenn man einfach dem Trampelpfad folgt, erreicht man nach kurzer Zeit das Ziel. Sen hingegen erkundet mit Neugier und Begeisterung das ganze Gebiet und weiß nachher mit Sicherheit, dass der Trampelpfad sinnvoll ist und auch warum. Man spürt seine Lust, auch die Sackgassen und Umwege nicht auszulassen und sie mit ironischen Spitzfindigkeiten zu kommentieren.

Es ist ein teils mühsamer Weg an Amartya Sens Seite, der nur ausdauernden Lesern zu empfehlen ist. Doch für die Anstrengungen der geistigen Wanderschaft hält Sen großen Lohn bereit: Er ist ein geistiger Kosmopolit ersten Ranges. Mathematiker und Physiker, gleichzeitig Ökonom und Philosoph, bewandert in der Geistes- und Ideengeschichte sowohl des Westens als des Ostens schlägt er immer wieder elegante Bögen über die Jahrtausende und Kulturen hinweg, die einen zum Staunen bringen.

Wer sich auf die Wanderschaft mit Sen einlässt, erfährt, wie die altindische Rechtslehre, der tolerante Mogul-Kaiser Akbar oder Shakespeare das Nachdenken über Gerechtigkeit anregen können. Seine geistige Spannkraft und Beweglichkeit wird deutlich, wenn er die Gedanken des altindischen philosophischen Streitgesprächs Bhagavadgita – der Held grübelt, ob er für eine gerechte Sachen kämpfen soll, obwohl er dabei aber viel Leid verursachen wird - wie er dieses Dilemma mit den Zweifeln Robert Oppenheimers in Beziehung setzt, des Vaters der Atombombe.

Und wer soll nun die Flöte bekommen? Ohne nähere Betrachtung aller Umstände kann das auch Amartya Sen nicht beantworten.

Service

Amartya Sen, "Die Idee der Gerechtigkeit", aus dem Englischen übersetzt von Christa Krüger, C. H. Beck Verlag

C. H. Beck - Die Idee der Gerechtigkeit