Erzählungen von Esther Kinsky

Banatsko

"Das frühere Land war klein geworden. Es lag im Licht des Andenkens, eine Insel in der Ferne. Es war ein Land ohne Grenzen gewesen, von einem unruhigen Meer umgeben und dem Grenzland, in dem ich jetzt lebte, fremd." Ihr Leben in England erinnert die Ich-Erzählerin. Und nun ist es Ungarn.

Nach London ein Zwischenjahr in Budapest, schließlich wurde es das Städtchen Báttonya, weit davon im Südosten. Ein altes Haus mit großem Garten. Wortarme bucklige Geschwister gleich nebenan. Friedhof mit jüdischen Gräbern, Kneipe mit Akkordeonspieler, das Kino längst geschlossen. Samstags großer Markt "wo die rumänischen Worte in der Luft schwirren und sich an den ungarischen reiben". Felder und Weideland soweit das Auge reicht. Im Grenzland von Rumänien und Serbien. Das Banat. Eine Gegend, "wo weder Hügel noch Schluchten in die Landschaft greifen", wie es an anderer Stelle in Esther Kinskys neuem Buch "Banatsko" heißt, "wo es keine Flüsse gibt, sondern Wasseradern. (...) Und am Ende ist immer der Himmel."

"Báttonya war ja ein vollkommener Zufall", sagt Esther Kinsky im Gespräch. "Ich musste da übernachten und hab dann einfach diese Gegend schlagartig entdeckt. (...) Ich hätte das vorher auch nie gedacht, dass ich so weit von einer Großstadt in so einer Leere sein kann, aber es war dann so etwas wie eine Offenbarung."

Zufall

Banatsko. Banatisches - die ungelenke deutsche Übersetzung hätte eine Dichterin wie Esther Kinsky wohl nie als Titel ihres neuen Prosabandes ersonnen. Und "Banat" war ihr zu banal. Abgesehen von der unterschiedlichen Aussage. Das Adjektiv ist dem Serbischen entnommen, das in diesem Dreiländereck allerorten ebenso beheimatet ist wie das Ungarische und das Rumänische, mit Erinnerungsversatzstücken aus dem Deutschen.

Báttonya. Zufall und spontane Entscheidung. Da verschlägt es einen Menschen aus einer reizüberfluteten, lärmenden Metropole in eine geografische, sprachliche und mentale Fremde, dem Sprache und Schrift Leben und Mittel zum Leben zugleich sind. Und es wird eine Offenbarung. Auch davon handelt dieses vom Berliner Verlag Matthes und Seitz als Roman ausgewiesene Buch. Wenn die Autorin in kurz aufscheinenden Streiflichtern über ihr "früheres Land" reflektiert und das andere zehrende Leben im urbanen Ballungsraum, dem sie mit diesen existenziellen Gegenentwurf im Banat entsagt. Doch dies nachgeordnet.

Entdeckung der Langsamkeit

Vor allem nimmt Esther Kinsky ihre Leser mit auf ihre Entdeckungsreise durch dieses Grenzland. Auf ihre Streifzüge zwischen Mures, Maros, Tisa und Tisza. Eine Entdeckung der Langsamkeit, scheinbarer Nebensächlichkeiten, Nichtigkeiten, Beobachtungen von Leben der kleinen Messbarkeiten, wie sie es in ihrer kraftvoll poetischen, sinnlichen Sprache nachzeichnet. Viele kleine pointilistische Skizzen.

Bevor sie in der Sprache ihres Gastlandes anlangt, beginnt sie solche scheinbaren Nebensächlichkeiten zu fotografieren. "Warum machst du solche Bilder?", wird sie einmal gefragt. "Ich betrachte die Sprache der Dinge", antwortet Esther Kinsky und formt daraus schließlich eindrückliche fotografische Sprachbilder.

In Báttonya sprach man gern von den Dingen, die fehlten. Zwischen langen Schweigepausen öffnete sich plötzlich ein Quell der Worte über Vergangenes, Verschwundenes, Niedagewesenes. Das Leben auf der Ebene war ein Leben in Ermangelung von Bergen, Seen, Meeren, die Abgelegenheit der schlammigen Straßen gestreift von Erscheinungen flüchtiger Gäste, verirrter Zufallsbesucher, denen man nachsann und über die man spekulierte. Wo ich auch hinhorchte, die Namen für den Mangel flossen, sprudelten, strömten, wurden zu einem Fluss, der zwischen den Thekenstehern, den Fensterguckern und den Eckenwärtern schwappte und gluckste, jeden Sinn aus den immerselben Worten wusch, dem kleinen Bestand der Erzählscherben, die man sich aus Gesehenem, Gehörtem und Geahntem herausgebrochen hatte und über die Kneipentheken, Fensterbänke und den Boden der Gehsteigecken zuschob, hin und her, bis nichts mehr blieb als die Leere unter dem ungeheuren Himmel.

"Was das Schreiben angeht, muss ich sagen, als ich nach Báttonya kam, das war 2004, da wurde mir schnell klar, (...) ich musste eine neue Form finden", erinnert sich Kinsky. Nicht dass ich die bewusst gesucht habe, aber diese unglaubliche Langsamkeit, dieses Schwebende, das erschien mir damals so, ja tatsächlich, unwirklich, wie ein Traum oder wie ein Film von Béla Tárr, (daran habe ich mich sehr oft erinnert. Das hat sicher eine Auswirkung auf mein Schreiben gehabt.) Ich hab das auch im Schreibprozess gemerkt, dass ich immer wieder irgendeine Form von Kargheit oder Langsamkeit und Geschehenslosigkeit gesucht habe. Es ist eine Anforderung für sich, das in eine Form zu bringen, die dann die Atmosphäre dieser Landschaft wiedergibt. Das ist schon ein Prozess gewesen, der nicht bewusst oder analytisch war, aber schon so ein Geben und Nehmen in der Auseinandersetzung mit dieser Landschaft."

Erzählungen voller Liebe und Respekt

"Báttonya", immer wieder taucht diese kleine ungarische Stadt als Überschrift der zahlreichen, wenige Seiten langen Kapitel auf. Oder: Der Akkordeonspieler. Der Melonenwächter. Der Fleischer. Mezöhegyes, Totenland, Krähenland, Árád, Kanijza, Lenauheim oder auch: Der Fisch. Das Werk. Den Alleskönnerhandwerker Attila porträtiert Kinsky mit seiner "lauten Männersprache und einer leisen schweigerischen Frauensprache, seinen zwei Arten, nichts zu sagen, und die Männersprache war nichts als lautes Schweigen".

Es sind dies kleine Erzählungen voller Liebe, zumindest aber immer voller Respekt vor den Menschen und vor dem, was ihren Alltag, ihre kleinen Freuden und Fluchten ausmacht. Man muss nicht das Gewicht des Vertrages von Trianon kennen oder andere Lasten der Geschichte, die die Menschen in diesem Grenzland bedrücken wie Fremdherrschaft, Faschismus, Kommunismus, oder um die Herausforderung wissen, die die Osterweiterung der EU nach der Wende für diese Region bedeutet, um sich über die poetische Prosa von Esther Kinsky in die Verfasstheit dieses Banater Raumes einfühlen zu können:

Ich wollte vor niemanden mehr treten und von meinem früheren Land berichten. Ich spürte, wie die Grenzen am Herzen schliffen und feilten. Wie sich die blassen Linien, die nur auf dem Papier und nicht auf der Erde zu sehen waren, um die Gedanken legten. Wie das fahle, gezeichnete Herbstland unter den Schritten Furchen und Aufwerfungen ins Spiel brachte, die auf ihre Dies- und Jenseitigkeit befragt werden sollten. Gleichzeitig erschien dem Blick über das in seiner weitausholenden Gleichförmigkeit so unbeugsame, in seiner Flachheit so widersätzige Land jede solche Hüben- und Drübenerwägung maßlos und im bloßen Namen des Besitzens herbeigezerrt. Wer wollte hier entscheiden, was wohin gehörte? Wer hätte je mit bloßem Auge, mit seinen Händen, seinen Füßen hier die Grenze erkennen können? Und doch war hier alles umflossen von der Traurigkeit des Getrenntseins.

Heute ist alles anders

"Auf die Frage: Requiem oder Hommage muss ich sagen, es ist auf keinen Fall ein Requiem, denn die Landschaft, so wie ich es damals geschrieben habe, das war das, was ich vorgefunden habe", sagt Kinsky. "Ich liebe diese Landschaft, und inzwischen muss ich sagen, das Buch ist ja schon vor längerer Zeit geschrieben - es ist 2005/2006 entstanden. Es hat sich inzwischen sehr, sehr viel verändert. Wenn ich heute dorthin käme, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr in der Lage gewesen, aus der neuen Betrachtung und ersten Begegnung mit dieser Landschaft dieses Buch zu schreiben. Es hat sich viel, angefangen vom Verkehr bis zur wirtschaftlichen Situation, zum Teil zur politischen Situation, sehr vieles geändert."

Es war die Entscheidung des Verlages, Esther Kinskys kleinen Band "Sommerfrische" über dieses Grenzland vor "Banatsko" herauszubringen. Die darin verarbeiteten, länger zurückliegenden Impressionen tun indes dem Gewinn an Informationen über diese "Terra incognita" und an einfach schöner, überzeugender schriftstellerischer Kunstfertigkeit keinen Abbruch.

Service

Esther Kinsky, "Banatsko", Matthes & Seitz Verlag

Matthes & Seitz - Esther Kinsky