Die nationale Sprache in der Musik

Vertonte Mythen

Im 19. Jahrhundert geriet die Opernbühne zum Ort der nationalen Selbstfindung. Um die jungen Nationalstaaten ideologisch zu stärken, errichtete man die Musentempel der Neuzeit. Was in Opernhäusern und Konzertsälen zur Aufführung gebracht wurde, transportierte nicht selten eine mythisch verklärte Geschichtslektion.

Musik ist eine universale Sprache. Eine Sprache, die Emotionen weckt, kann politisch bedeutsam werden, zum Beispiel dann, wenn Worte der Zensur unterliegen wie im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Nach dem Sieg über Napoleon stellten die herrschenden Dynastien in Europa zunächst einmal die alte politische Ordnung wieder her.

Zugleich grassierte nicht zu Unrecht die Angst vor der Revolution. Das Bürgertum war im Begriff, zu politischem Selbstbewusstsein zu finden. Und die Nationen waren im Begriff, ihre politische Selbstbestimmung einzufordern, entweder in einem Ruf nach politischer Autonomie wie die Nationalitäten der Donaumonarchie oder nach politischer Vereinigung wie im italienischen Risorgimento.

Auf der Such nach der Identität

Erst einmal musste man sich aber der eigenen - nationalen - Identität vergewissern. Und dazu war die Kunst, waren die Literatur und die bildende Kunst, aber auch die Musik ein probates Mittel. Auf der Opernbühne und in der Programmmusik wurden im 19. Jahrhundert historische Stoffe als mythische Erzählungen gestaltet. Der tschechische Komponist Bedrich Smetana etwa behandelte sowohl in seinem sinfonischen Zyklus "Ma vlast - Mein Vaterland" als auch in seiner Oper "Libussa", die zur tschechischen Nationaloper wurde, die legendäre böhmische Vorzeit.

In der russischen Oper werden Sieger und Verlierermythen bearbeitet: Alexander Borodins Oper "Fürst Igor", Modest Mussorgskijs "Boris Godunow" und Glinkas Oper "Ein Leben für den Zaren", die im 19. Jahrhundert die gefeierte russischen Nationaloper und während der Zeit des Sowjetpatriotismus als "Ivan Susanin" wieder entdeckt wurde.

Finnisches Nationalepos Kalevala

In Skandinavien inspirierte das finnische Nationalepos Kalevala den Komponisten Jean Sibelius zu einem Zyklus sinfonischer Dichtungen, der Lemminkäinen-Suite. Und in Westeuropa wurde mit Musik sogar Politik gemacht, selbst wenn das gar nicht in der Absicht des Komponisten lag.

Oper als Auftakt für eine Revolution

In Belgien bildete eine Opernaufführung den Auftakt zur Revolution. Die Aufführung der "Stummen von Portici" von Daniel-Francois-Esprit Auber löste Tumulte 1830 aus, die zu Unruhen auf die Straße und wenige Monate später zu einer parlamentarischen Demokratie unter einem neuen König.

Dass die Melodie des Gefangenenchors aus Verdis "Nabucco" zum nationalen Symbol für Protest gegen Fremdherrschaft und politische Willkür wurde, vollzog sich erst im Lauf des späten 19. Jahrhunderts, lange nach der Uraufführung 1842: Bis heute gilt "Va pensiero" als inoffizielle Hymne Italiens. (Die offizielle Hymne, "Fratelli d'Italia", war übrigens ursprünglich ein Kampflied aus der Zeit des Risorgimento.)

Verdi als Wolf im Schafspelz

Um das Thema Vaterland geht es in vielen von Verdis Opern, oftmals indirekt, wenn er das Patria-Motiv weitab von den Grenzen Italiens ansiedelt, wie in "Macbeth". Verdi verstand die Kunst, politische Themen zu verpacken wie den Wolf im Schafspelz. Wenn der Chor der Flüchtlinge im vierten Akt "patria opressa" singt und Malcolm und Macduff unisono "patria tradita" schmettern, dann ist zwar von Schottland die Rede, das zu dieser Zeit noch keine Nation im Sinn des 19. Jahrhunderts war. Ein Vaterland, das ausgelagert wurde, denn das italienische Publikum wusste durchaus, worum es ging.

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