Unterwegs in der südlichen Toskana

Im Val d'Orcia wird man alt

Vor der Bar Centrale am Hauptplatz der kleinen südtoskanischen Stadt San Quirico d'Orcia geht es hoch her. Es ist Samstag, 21:00 Uhr, man hat zu Hause zu Abend gegessen und beendet den Tag bei schönem Wetter im Gespräch mit den Einheimischen, den Zugewanderten aus aller Welt und - soweit sie des Italienischen halbwegs mächtig sind - den zeitweiligen Mitbürgern aus Österreich, Deutschland, der Schweiz oder den USA, die einige Wochen oder Monate des Jahres hier verbringen.

Heute geht ein Artikel aus dem "Corriere di Siena" von Hand zu Hand, der eine aktuelle demographische Studie zitiert: Bewohner des Val d'Orcia haben eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung, 90- bis 100-Jährige sind keine Seltenheit. "Es liegt an unserem Olivenöl, dem besten auf der ganzen Welt", vermuten die einen. "Es liegt an unserem guten Rotwein, aber auch am gesunden Wasser, das direkt aus den Bergen kommt", sagen die andern.

Differenziertes Licht

"Es liegt", ergänzt der Fotograf Paolo Naldi (von dem die Bilder in diesem Artikel stammen), "nicht zuletzt an unserem Ambiente, in dem noch eine humane Lebensart möglich ist." Paolo Naldi muss es wissen. Er fotografiert neugeborene Babys, Alte, die ihre Wohnungen nicht mehr verlassen können, Kinder, die zur ersten Kommunion gehen, Feste, die dem Jahr den Rhythmus geben.

Vor allem fotografiert er die Gegend zwischen dem mächtigen Monte Amiata im Süden und den sanften Weinbergen von Montalcino im Westen, wo der berühmte Brunello wächst. Sein Fotoband "Luci di Val d'Orcia" zeigt die südliche Toskana in differenziertem Licht. Über durchreisende Touristen, die tagsüber ihre Autos am Straßenrand parken und bei grellem Sonnenschein ihre Fotos schießen, kann er nur milde lächeln.

Moderne Zeiten für Großgrundbesitzer

Anders als das kleinzellig parzellierte Chianti zwischen Florenz und Siena, war und ist das Val d'Orcia zum Teil noch immer in der Hand von Großgrundbesitzern. Das mag politisch problematisch sein, aber aggressive Eingriffe in das Landschaftsbild wurden durch die feudalen Besitzverhältnisse verhindert.

Trotzdem haben auch in San Quirico d'Orcia die modernen Zeiten Einzug gehalten. Zur früher geheiligten Mittagszeit lärmen die Maurer mit ihren Presslufthämmern, während die Gärtner die Hecken in den Horti Leonini stutzen, einem Renaissance-Garten, der nach neuesten Spekulationen auf einen Entwurf von Michelangelo zurückgehen könnte. "Eine Idylle jenseits der Globalisierung haben wir hier nicht", sagt Ugo Sani, Leiter des "Archivo Italiano dell'Arte dei Giardini" und des Verlages DonChisciotte, in dem auch Paolo Naldis Fotoband erschienen ist.

Stundenlang lauert er vor Sonnenaufgang und zum Sonnenuntergang auf den richtigen Lichteinfall, verfolgt die Bewegung der Schatten, arbeitet die Struktur der Landschaft heraus. Einsame Gehöfte und Zypressen an exponierten Aussichtspunkten, leuchtend roter Mohn und wild-gelbes Ginstergebüsch im Frühjahr, wogendes Getreide im Sommer, abgebrannte, braune Felder im Herbst und eine Prise Schnee auf einer alten Kirche im Winter. Hier war einmal, in erdgeschichtlicher Vorzeit, ein Meer, und der Blick über die Hügel ist weit.

Seit 2004 UNESCO-Welterbe

Don Quijote hat gegen Windmühlen gekämpft - hier gab es potentere Gegner: Etwa ein Jahrzehnt ist es her, da hatte ein kapitalstarker Unternehmer aus Mailand die Idee, die hügelige Landschaft im Val d'Orcia partiell in einen Golfplatz mit luxuriösen Hotelketten zu verwandeln. Weinberge, Olivengärten, Weizenfelder und Weideplätze wären dafür geopfert worden. Beherzte Bürgerinnen, Bürger und Bürgermeister aus dem Orcia-Tal taten sich zusammen und präsentierten als Gegenprojekt den "Parco Artistico, Naturale e Culturale della Val d'Orcia". Seit 2004 ist die Kulturlandschaft des Val d'Orcia UNESCO-Welterbe. Kein Ginsterbusch darf ohne Genehmigung abgeschnitten, kein Lehmabbruch planiert werden.

Benedetta Origo vom ebenso ausgedehnten wie prächtigen Landgut "La Foce" sieht diese radikale Art von Landschaftsschutz mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Auf das verbliebene undurchdringliche Gestrüpp und die Lehmabbrüche, die hier Crete heißen, könnte sie verzichten. Als ihr Vater Antonio, ein illegitimer Sprössling aus einem italienischen Adelsgeschlecht, und ihre Mutter Iris, Diplomatentochter aus einer so reichen wie philanthropischen englisch-irischen Familie, im Jahr 1924 begannen, die trockene, unwirtliche Gegend fruchtbar zu machen, taten sie mit viel Idealismus das, was heute verboten ist. Sie entfernten nach bestem Wissen und Gewissen, was nicht der Produktion diente. Schön und charakteristisch südtoskanisch ist es hier trotzdem geblieben.

"La Foce" ist auch ein mit Geschichte aufgeladener Ort. In ihrem berühmten Tagebuch "Krieg im Val d'Orcia" erzählt Iris Origo, wie es in den letzten Kriegstagen unter der Mithilfe von Bauern gelang, Flüchtlingskinder aus dem brennenden Tal zu retten. Heute kümmern sich Benedetta und ihre Schwester Donata um das Anwesen, den einzigartigen englisch-italienischen Garten hinter der Villa, die Gäste in den Bauernhöfen und machen "La Foce" auch zu einem kulturellen Treffpunkt mit Konzerten und Vernissagen.

Ehemaliger Direktor als Bauer

Etwas alternativer ist das Projekt von Enzo Foi, der seit zehn Jahren in der Nähe des Örtchens Vivo d'Orcia seine biologische, 60 Hektar große Farm betreibt. Als der ehemalige Direktor von Vodafone Italia seiner Firma auf Nimmerwiedersehen sagte, um Bauer zu werden, wollte man ihm nicht glauben und befürchtete, dass er zur Konkurrenz gehen wollte. Aber Enzo Foi machte ernst.

Seine Kindheit hat er im Friaul verbracht, dort, wo der berühmte Prosciutto San Daniele herkommt, und zum Schinken wollte er auch zurückkehren. Heute züchtet er die traditionelle Schweinerasse Cinta Senese, die im Unterschied zum rosa Hausschwein nur im Freien gehalten werden kann. Mit Schinken, Speck, pikanten Würsten, aber auch mit Marmeladen und Olivenöl gewinnt er einen Preis nach dem anderen. Aber das ist nur ein Nebeneffekt seiner Philosophie. Ihm geht es um Geschmacksbildung in von Fastfood verdorbenen Zeiten. Wenn Schulkinder in seinen Seminaren lernen, seine feinen, lokalen Produkte von industrieller Massenware zu unterscheiden, dann weiß er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat.

Service

Fotoband von Paolo Naldi, "Luci di Val d'Orcia", Verlag DonChisciotte

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