Bericht von Anatoly N. Tkachuk
Ich war im Sarkophag von Tschernobyl
Seit dem Unfall im japanischen AKW Fukushima im vergangenen März ist das Thema Atomkraft präsenter denn je. "Ich war im Sarkophag von Tschernobyl" heißt das Buch von Anatoly N. Tkachuk, der mit einem Team von vier Personen im Reaktor von Tschernobyl war und als Einziger überlebt hat.
27. April 2017, 15:40
Zitat
Feiglinge bleiben da. Ich möchte nicht, dass die Leute auf mich zeigen und sagen: Hey KGB-Mann... hast du Schiss? Möchtest du das? Ich kann nichts dagegen machen. Das ist der Fall, denke ich, wenn man mit Recht sagt, alle müssen an einem Strang ziehen.
Mit diesen Worten rechtfertigt Anatoly Tkachuk seine Entscheidung vor seiner schwangeren Frau, sich in Tschernobyl - ein Jahr nach dem AKW-Unfall - an den Aufräumarbeiten rund um den Reaktor zu beteiligen. Das Buch beginnt bereits mit der Zeit vor der AKW-Katastrophe, mit seiner Ausbildung, seinem Militärdienst und der Arbeit für den KGB. Er beschreibt den Job der etwa 600.000 Liquidatoren, die versucht haben, das Austreten von radioaktiver Strahlung einzudämmen und den Reaktor zu isolieren.
Zitat
Die Sache war die, dass die Liquidatoren, die neben dem Reaktor arbeiteten, nur einmal eingesetzt werden durften und nur eine Aktion durchführen konnten. Innerhalb von sechzig Sekunden bekamen sie so eine hohe Dosis Strahlung ab wie ein Mensch normalerweise in seinem ganzen Leben. Kurz hinrennen, einmal mit der Schaufel in den radioaktiven Schlamm stechen und wieder zurück.
Am besten nicht hingehen
Tkachuk hat in Tschernobyl einen hohen Posten. Er ist für die Militärspionage-Abwehr tätig und für die Sicherheit der dort arbeitenden Truppen zuständig. Bevor der Russe seinen Dienst in Tschernobyl antritt, erkundigt er sich bei einem Physiker, wie er sich am besten vor den Strahlen schützen kann. Der begegnet ihm mit resignierter Ironie: Der beste Weg, sich vor der Strahlung in Tschernobyl zu schützen, sei nicht nach Tschernobyl zu gehen. Tkachuk berichtet vom Rat, bei dem Geruch von Ozon, das so ähnlich wie eine Ultraviolettlampe riecht, um sein Leben zu laufen.
Der Physiker bringt noch ein abschreckendes Beispiel aus der Natur. Ein großer Pinienwald, angesiedelt zwischen dem Kraftwerk und der Stadt Pripjat, ist jetzt ein toter Wald.
Zitat
Als der Störfall passierte, wechselte er seine Farbe von Grün in ein Toten-Gelb, nicht einmal Gelb, eher Sandfarben. Oder Orange, Ziegelrot. Rundherum ist alles grün und in der Mitte ist es Herbst. Der Wald hat einen radioaktiven Schlag bekommen und ist sofort gestorben. Wie wenn man eine Leiche anschaut. Ich habe gleich weggeschaut, aber es ist mir im Gedächtnis geblieben. Diese Schnitte auf den Bäumen, wie vergossenes Blut. Später haben sie die Bäume gefällt und am selben Ort begraben.
Notwendige Messungen
Anatoly Tkatchuk schildert das Erlebte in der dritten Person und nicht in der Ich-Form - um die notwendige Distanz zu schaffen, die es braucht, um solches Erleben und Überleben in Sprache zu fassen, begründet er. Anfangs irritierend, der Leser weiß ja, dass es sich um Tkachuks persönliche Geschichte handelt.
In Tschernobyl sucht Tkachuk nach der Ursache für die Katastrophe. Sabotage, menschliches Versagen oder eine unglückliche Verkettung von vielen kleinen Fehlern? Er recherchiert in Konstruktionsplänen, Dokumenten, Protokollen und findet Material zu Standards und Qualitätsanforderungen, die noch aus der Bauphase des AKWs stammen. Der Reaktor ist eine tickende Zeitbombe. Tkachuk entscheidet sich, mit einem Team von vier Leuten in den Sarkophag zu gehen, um aktuelle Messungen über den Zustand zu liefern. Bis zur letzten Minute hadert er mit seiner Entscheidung und hofft insgeheim, dass es doch noch "Kommando retour" heißt.
Zitat
Andrey konnte sich perfekt vorstellen, was die anderen Männer im Stab dachten, die zur Beobachtung eingeteilt waren: In den Tod schicken war schlimmer als in den Tod gehen. Andrey vergaß keine Minute, was vor ihm lag. Wahrscheinlich hatte Yudenkov diesen Termin gewählt um ihm keine Möglichkeit zu geben, wieder über seinen möglichen Tod nachzudenken und hatte ihm so seelische Belastungen erspart. Aber nun wurde es Zeit. Andrey verließ da Zimmer. Er räumte auf, als wäre es ein Abschied für immer. Jetzt gab es keine Emotionen mehr, nur noch kaltblütige Vorbereitungen.
"Symbolische" Schutzanzüge
Beklemmend ist das Kapitel, in dem der Autor die Minuten im Labyrinth des staubigen, dunklen und feuchten Sarkophags schildert. Die Armee-Chemie-Schutzanzüge, schreibt er, waren eher von symbolischem Wert. Gegen eine so starke Gamma-Strahlung schirmen nur meterdicke Bleiplatten ab.
Zitat
Die Totenstille des Korridors dröhnte in ihren Ohren und wurde auch von ihren langsamen Schritten nicht durchbrochen. Auf der Zunge und den Lippen war plötzlich ein unbekannter metallischer Geschmack. Die Strahlenmessgeräte drehten durch. Nacheinander fielen die Anzeigen aus, nachdem sie die 1000er-Marke überschritten hatten. Jetzt ging es um jede Sekunde, ihr Leben hing von jedem einzelnen Schritt ab.
Die Erzählung liest sich teilweise etwas holprig, nicht wie ein Sachbuch, eher wie ein Krimi. Anatoly Tkachuk schildert sehr persönlich die Innenansicht - die von Tschernobyl und die seiner Gefühlswelt. Er beschreibt die furchtbare Erfahrung sehr pathetisch, vor allem wenn es um seine Heimat Russland und die Zukunft der Menschen geht. Und so resümiert er: "Vielleicht ist es das, was die russische Seele ausmacht - manchmal sind wir eine gedankenlos tapfere Nation."
Service
Anatoly N. Tkachuk, "Ich war im Sarkophag von Tschernobyl. Der Bericht eines Überlebenden", übersetzt und bearbeitet von Reinhard Deutsch, Styria premium
Styria premium - Ich war im Sarkophag von Tschernobyl