Der Gefreite Hitler im Ersten Weltkrieg
Hitlers erster Krieg
Wie verfasst man ein dickes Buch über ein Thema, zu dem es angeblich keine Quellen gibt? Das Leben Adolf Hitlers im Ersten Weltkrieg galt bislang als blinder Fleck der Forschung, da der Gefreite in seinem Regiment kaum auswertbaren Spuren hinterlassen hatte.
8. April 2017, 21:58
Jenseits der späteren glorifizierenden Selbstdarstellungen aus den Reihen der NSDAP und sporadischer Aussagen einiger weniger Kameraden, zweier Postkarten und einem Foto galten Hitlers Kriegsjahre als nicht weiter ergiebig. Thomas Weber beweist nicht nur, dass neue Erkenntnisse über Hitlers Jahre im Ersten Weltkrieg möglich sind, sondern es gelingt ihm gleichzeitig, historische Mythen zu zerstören. Ein zaubernder Historiker?
Der heute in England lehrende frühere Mitarbeiter an Ian Kershaws hochgeschätzter Hitler-Biografie nahm den Umweg über Hitlers Regiment, dessen Akten im Bayrischen Landesarchiv in München vollständig und nahezu uneingesehen lagern. Über die Geschichte der kollektiven Kriegserfahrungen von Hitlers Einheit, dem 16. bayerischen Infanterie-Reserve-Regiment List, benannt nach dem ersten Kommandeur Oberst Julius von List, begann er, das Umfeld der Truppe akribisch zu rekonstruieren. Das bisher vorgegebene Bild ließ sich allzu leicht revidieren:
Zitat
In diesem Buch werde ich zeigen, dass kaum etwas von dem, was wir bisher über Hitlers Regiment geglaubt hatten, den Tatsachen entspricht. Wir müssen die wahre Geschichte des List-Regiments kennen, die Geschichte, die sich hinter dem von Hitler und seinen Propagandisten konstruierten Mythos verbirgt, wenn wir verstehen wollen, wie es zum Zusammenbruch der relativ stabilen und friedlichen ersten Epoche der Globalisierung im 19. Jahrhundert und zum rasanten Aufstieg Adolf Hitlers kommen konnte.
Kaum "Fronterlebnis"
Das Regiment List kämpfte an der französisch-belgischen Grenze. Die Behauptung, Hitler hätte dort mit seinen Kameraden jahrelange Fronterfahrung tapfer durchgestanden, hätte im Schützengraben ausgeharrt und wäre permanenter Lebensgefahr ausgesetzt gewesen, zählte bisher zu den Grundfesten der nationalsozialistischen Ideologie. Das gemeinsame "Fronterlebnis" hätte die Gruppe in ihrem nationalistischen Hass geeint und sie auf den Nationalsozialismus eingeschworen.
An dieser Geschichte stimmt nur eines: die unbeschreiblichen Qualen, die Hitlers Kameraden an der Front zu ertragen hatten. Als Meldegänger des Regiments war Hitler nicht nur weniger Gefahren ausgesetzt, sondern schlief und arbeitete in bequemen Häusern des Hinterlandes.
Zitat
Das Lebensgefühl an diesem Ort hatte nichts mit dem in den Schützengräben zu tun.(...) Die größte Gefahr für Hitler waren hinter der Front einschlagende Artilleriegeschosse, nicht jedoch Gewehr- und Maschinengewehrfeuer oder die anderen großen Bedrohungen für das Leben der Frontsoldaten, darunter Minenexplosionen unter den Schützengräben. (...) Die häufig zu hörende Behauptung, Hitler habe "gewusst", was es bedeutete, "im Schlamm und Matsch der Westfront zu leben" entspricht also keineswegs den Tatsachen. (...)
Wegen "Kriegshysterie" im Lazarett
Eine besondere Entdeckung aber machte der Autor, als er Hitlers berühmter Schilderung des Senfgasangriffes nachspürte. Während tatsächlich sein Regiment unter diesen Angriffen zusammenbrach, hatte Hitler nur eine geringe und nicht dauerhaft schädliche Dosis abbekommen. Aus den Krankenakten ging hervor, dass Hitler im Reservelazarett wegen "Kriegshysterie" auf der psychiatrischen Station und nicht in der Augenabteilung behandelt wurde. Seine vorübergehende Blindheit war demnach psychisch bedingt.
Zitat
In deutlichem Widerspruch zu der Geschichte, die er nach dem Krieg über sich erzählte und die den Kern des nationalsozialistischen Mythos bilden sollte, war er, nachdem er vier Jahre ein erstaunliches Maß an Beharrungsvermögen bewiesen hatte, schließlich nicht mehr imstande, die Wirklichkeit des Krieges psychisch zu ertragen.
Relativ wertloses Eisernes Kreuz
Selbst die Verleihung des Eisernen Kreuzes I. Klasse, das bisher als Tapferkeitsmedaille gehandelt wurde, zeigt sich in Thomas Webers Recherche in einer anderen Bedeutung. Nicht nur hatte Hitler diese Auszeichnung ausgerechnet seinem jüdischen Vorgesetzten zu verdanken, sondern sie wurde gerade nicht den Frontsoldaten, sondern mehrheitlich jenen langjährigen Mitgliedern des Regimentsstabes verliehen, die sich "einzuschmeicheln" wussten. Auch vom später behaupteten Antisemitismus der Truppe war damals weder bei Hitler noch seinen Kameraden viel zu erkennen.
Schließlich dekonstruiert/zerpflückt Thomas Weber auch den von Historikern übernommenen Mythos, das gemeinsame Fronterlebnis hätte einen Gutteil der Kriegsüberlebende für den Nationalsozialismus empfänglich gemacht. Tatsächlich hatte sich die politische Einstellung vieler Frontsoldaten - darunter vor allem der bayrischen - nach 1918 nicht wesentlich geändert:
Zitat
In ihrem Ursprung waren Nationalsozialismus und Faschismus weder eine intellektuelle Antwort auf den Bolschewismus noch ein Produkt des Ersten Weltkrieges. Doch die Beteiligung an der Niederschlagung des Bolschewismus in Bayern sicherte den rechtsextremen und faschistischen Gruppen, die bis dahin eine marginale politische Rolle gespielt hatten, eine gewisse Legitimität, wenn auch keine massive und direkte Unterstützung für ihre politischen Ziele.
Grundlage für weitere Forschungen
Es ist bewundernswert, wie souverän es Thomas Weber gelang, tradierte Annahmen zu durchkreuzen und neue Zusammenhänge darzustellen. Wenn auch noch nicht alles restlos geklärt und bis ins letzte Detail bewiesen werden konnte, so hat er für weitere Forschungen Türen aufgestoßen und neue Richtungen vorgegeben. Und dabei scheint er lediglich der einfachen wissenschaftlichen Grundhaltung gefolgt zu sein, dass an allem zu zweifeln ist. Thomas Weber zeigt damit, wie Geschichtsforschung selbst auf einem Gebiet zu betreiben ist, dem die etablierte Zunft nichts mehr abgewinnen konnte. Zur Lektüre und zur Nachahmung bestens empfohlen.
Service
Thomas Weber, "Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg - Mythos und Wahrheit", aus dem Englischen übersetzt von Stephan Gebauer, Propyläen Verlag
Propyläen Verlag - Hitlers erster Krieg