Der Gefreite Hitler im Ersten Weltkrieg

Hitlers erster Krieg

Wie verfasst man ein dickes Buch über ein Thema, zu dem es angeblich keine Quellen gibt? Das Leben Adolf Hitlers im Ersten Weltkrieg galt bislang als blinder Fleck der Forschung, da der Gefreite in seinem Regiment kaum auswertbaren Spuren hinterlassen hatte.

Jenseits der späteren glorifizierenden Selbstdarstellungen aus den Reihen der NSDAP und sporadischer Aussagen einiger weniger Kameraden, zweier Postkarten und einem Foto galten Hitlers Kriegsjahre als nicht weiter ergiebig. Thomas Weber beweist nicht nur, dass neue Erkenntnisse über Hitlers Jahre im Ersten Weltkrieg möglich sind, sondern es gelingt ihm gleichzeitig, historische Mythen zu zerstören. Ein zaubernder Historiker?

Der heute in England lehrende frühere Mitarbeiter an Ian Kershaws hochgeschätzter Hitler-Biografie nahm den Umweg über Hitlers Regiment, dessen Akten im Bayrischen Landesarchiv in München vollständig und nahezu uneingesehen lagern. Über die Geschichte der kollektiven Kriegserfahrungen von Hitlers Einheit, dem 16. bayerischen Infanterie-Reserve-Regiment List, benannt nach dem ersten Kommandeur Oberst Julius von List, begann er, das Umfeld der Truppe akribisch zu rekonstruieren. Das bisher vorgegebene Bild ließ sich allzu leicht revidieren:

Kaum "Fronterlebnis"

Das Regiment List kämpfte an der französisch-belgischen Grenze. Die Behauptung, Hitler hätte dort mit seinen Kameraden jahrelange Fronterfahrung tapfer durchgestanden, hätte im Schützengraben ausgeharrt und wäre permanenter Lebensgefahr ausgesetzt gewesen, zählte bisher zu den Grundfesten der nationalsozialistischen Ideologie. Das gemeinsame "Fronterlebnis" hätte die Gruppe in ihrem nationalistischen Hass geeint und sie auf den Nationalsozialismus eingeschworen.

An dieser Geschichte stimmt nur eines: die unbeschreiblichen Qualen, die Hitlers Kameraden an der Front zu ertragen hatten. Als Meldegänger des Regiments war Hitler nicht nur weniger Gefahren ausgesetzt, sondern schlief und arbeitete in bequemen Häusern des Hinterlandes.

Wegen "Kriegshysterie" im Lazarett

Eine besondere Entdeckung aber machte der Autor, als er Hitlers berühmter Schilderung des Senfgasangriffes nachspürte. Während tatsächlich sein Regiment unter diesen Angriffen zusammenbrach, hatte Hitler nur eine geringe und nicht dauerhaft schädliche Dosis abbekommen. Aus den Krankenakten ging hervor, dass Hitler im Reservelazarett wegen "Kriegshysterie" auf der psychiatrischen Station und nicht in der Augenabteilung behandelt wurde. Seine vorübergehende Blindheit war demnach psychisch bedingt.

Relativ wertloses Eisernes Kreuz

Selbst die Verleihung des Eisernen Kreuzes I. Klasse, das bisher als Tapferkeitsmedaille gehandelt wurde, zeigt sich in Thomas Webers Recherche in einer anderen Bedeutung. Nicht nur hatte Hitler diese Auszeichnung ausgerechnet seinem jüdischen Vorgesetzten zu verdanken, sondern sie wurde gerade nicht den Frontsoldaten, sondern mehrheitlich jenen langjährigen Mitgliedern des Regimentsstabes verliehen, die sich "einzuschmeicheln" wussten. Auch vom später behaupteten Antisemitismus der Truppe war damals weder bei Hitler noch seinen Kameraden viel zu erkennen.

Schließlich dekonstruiert/zerpflückt Thomas Weber auch den von Historikern übernommenen Mythos, das gemeinsame Fronterlebnis hätte einen Gutteil der Kriegsüberlebende für den Nationalsozialismus empfänglich gemacht. Tatsächlich hatte sich die politische Einstellung vieler Frontsoldaten - darunter vor allem der bayrischen - nach 1918 nicht wesentlich geändert:

Grundlage für weitere Forschungen

Es ist bewundernswert, wie souverän es Thomas Weber gelang, tradierte Annahmen zu durchkreuzen und neue Zusammenhänge darzustellen. Wenn auch noch nicht alles restlos geklärt und bis ins letzte Detail bewiesen werden konnte, so hat er für weitere Forschungen Türen aufgestoßen und neue Richtungen vorgegeben. Und dabei scheint er lediglich der einfachen wissenschaftlichen Grundhaltung gefolgt zu sein, dass an allem zu zweifeln ist. Thomas Weber zeigt damit, wie Geschichtsforschung selbst auf einem Gebiet zu betreiben ist, dem die etablierte Zunft nichts mehr abgewinnen konnte. Zur Lektüre und zur Nachahmung bestens empfohlen.

Service

Thomas Weber, "Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg - Mythos und Wahrheit", aus dem Englischen übersetzt von Stephan Gebauer, Propyläen Verlag

Propyläen Verlag - Hitlers erster Krieg