Klassik-Krise in der Erlebnisgesellschaft

Neue Konzerthäuser?

Stirbt der Klassik das Publikum weg? Vieles deutet darauf hin. Trotzdem gibt es derzeit einen Boom an neuen - und umstrittenen - Konzertbauten, vom neuen Sängerknaben-Konzertsaal in Wien bis zur Elbphilharmonie in Hamburg.

Es scheint gelaufen: Der neue Konzertsaal der Wiener Sängerknaben wird gebaut, im Wiener Augartenspitz, wo einst eine Tankstelle war, also ohnedies schon Bauland. Noch campieren ein paar erbitterte Gegner und Gegnerinnen, und die Stimmen, dass doch ein Konzertsaal auf dem Flakturm viel origineller gewesen wäre, verstummen nicht.

Oder am besten gar neue Saal, sondern die Eröffnung von Konzertorten an Orten, wo Menschen in die Schule gehen oder arbeiten?

Gewöhnliche und übergewöhnliche Konzertsäle

Die Frage nach dem Konzerthaus ist eine sehr vielfältige. Dass sie meist zu selten geführt wird und die Politik zu schnell entscheidet, wissen die Kulturtheoretikerinnen und Konzerthausexperten - wie Martin Tröndle. Er hat sich, lehrend an der Zeppelin-Universität in Friedrichshaven - in mehreren Symposien und Publikationen mit dem Thema beschäftigt:

"Mein Kollege Volker Kirchberg von der Universität Lüneburg unterscheidet zwischen drei Typen - dem gewöhnlichen Konzertsaal, dem außergewöhnlichen Konzertsaal und den übergewöhnlichen Konzertsaal. Was Sie momentan sehen, ist der Hang zum übergewöhnlichen Konzertsaal und der Prototyp davon ist vielleicht die Elbphilharmonie in Hamburg. Es geht dort weniger ums Konzert, vielmehr geht's um Stadtmarketing, gewisse Identifikations- und Attraktionspunkte zu schaffen und den Tourismus zu fördern. Man macht hier genau dasselbe, was man in der Museumswelt seit zwanzig Jahren macht: Man baut Gebäude, die an sich schon Kunstwerke sind, die hochgradig skulptural sind, um durch diese Objekthaftigkeit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das hat mit der Musikausübung erst mal wenig zu tun."

Ästhetische Codierung

Die Frage des Konzertsaales in Wien beinhaltet die Frage, wie viele Veranstaltungen eine Stadt hat und wie stark sind diese ausgelastet: "Die nächste Frage ist natürlich auch, was für eine ästhetische Codierung haben die vorhandenen Säle", sagt Tröndle, "Säle und Räume haben einen bestimmten Gestus. Dieser Gestus zieht bestimmte Publikumsgruppen an und stößt andere ab, indem sie eine bestimmte Hemmschwelle aufbauen. Bei der Planung eines Konzertsaales stellt sich die Frage: Für wen baut man diesen und wen will man damit anlocken? Man kann den Weg auch genau umgekehrt gehen und darauf verzichten, einen eigenen Saal zu haben, das ist vielleicht aus der Perspektive eines Ensembles wie den Sängerknaben viel sinnvoller, um das Publikum an ganz bestimmten Orten abzuholen."

Event, Ereignis, Musik und Unterhaltung

Konzerte sind immer gesellschaftliche Ereignisse, im 19. Jahrhundert waren sie dies noch viel mehr, als sie es heute sind. Die klassische Musik hat natürlich nicht mehr dieses Identifikationsmoment, was sie im 19. Jahrhundert hatte. Die Popmusik hat ihr wohl diesen Rang schon seit einiger Zeit abgelaufen, meint Tröndle und gibt zu bedenken: "Wenn Sie einen Konzertsaal bauen, dann sollte man darin möglichst unterschiedliche Dinge tun können. Nicht unbedingt Pop- und Rockkonzerte, aber unterschiedliche klassische Konzerte. Einen speziellen Vokalsaal zu bauen, finde ich relativ schwierig. Aber es sollte ein Saal sein, der von der Gregorianik bis zur neuen Musik alles abdecken kann.

Aber die eigentliche Frage ist, ob es tatsächlich sinnvoll ist, Säle zu bauen. Wenn wir einen Saal bauen, sollte der 30 bis 50 Jahre bespielbar sein und wenn sie sich die demographische Entwicklung anschauen, sehen sie, dass wir eine stark alternde und schrumpfende Bevölkerung haben, wenn sie dann gleichzeitig die Entwicklungen im Konzertwesen anschauen, sehen sie auch, dass sie einer starken Dezimierung entgegen gehen. Das ist der Grund, warum die Konzerthäuser nun Musikvermittlungsprogrammen lancieren, wobei man noch nicht weiß, ob diese Programme tatsächlich funktionieren."

Altar Konzerthaus

Unsere Konzertsäle sind immer Altäre, in denen man vielen Verboten unterliegt, eine Folge der historischen Entwicklung. Tröndle überblickt die Konzertgeschichte: "Wir sehen immer wieder unterschiedliche Varianten des Konzertes hatten. Das Konzert, das wir heute als das Konzert betrachten, ist eigentlich eine Variante, die um 1880 entstanden ist und 1910 abgelöst werden sollte. Diese Variante - dies ist auch die These meines Buches - ist eine der großen Gründe, des Publikums- und Akzeptanzproblems.

Das Konzert hat sich in den letzten hundert Jahren nur sehr wenig gewandelt, in dieser bestimmten Liturgie und Hierarchie und Ritualität des Publikums, die auch eingefordert wird; deshalb auch die These, man muss nicht das Publikum ändern, sondern das Konzert müsste sich ändern. Wenn sie ein Konzerthaus bauen, der dem Gestus des späten 19. Jahrhunderts entspricht und auch eine Liturgie des späten 19. Jahrhunderts zelebrieren, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn dieses Haus langfristig keinen Erfolg hat."

Ein großes Problem des Konzerts ist diese absolute Standardisierung und Erwartbarkeit, meint der Autor: "Die Leute unserer so genannten Erlebnisgesellschaft, wollen Erlebnisse. Bei einem Konzert ist alles vorgegeben - wie lange die Pause dauert, wie lange das Konzert dauert - und deshalb langweilig. Viele jüngere Menschen gehen deshalb nicht mehr hin, weil sie nicht mehr überrascht werden können! Wie schaffen Sie das, das Konzert als ästhetisches und soziales Ereignis neu zu denken, neu zu formieren und diesen Ort wieder interessant zu machen."

Die Autorität eines veralteten Modells

Aus der Musikgeschichte wissen wir ganz genau, wie sich das Konzertwesen entwickelt hat, referiert Tröndle: "Die Konzertform um 1910 wurde wie in einer Blase konserviert, die aber langsam platzt, weil die Leute keine Lust mehr darauf haben. Die Ausgaben, die der Staat für diesen Bereich ausgibt, sind nicht unerheblich, aber 95 Prozent der staatlichen Mittel fließen wieder in staatliche Institutionen. Die großen Innovationen sind aber nie in Staatsbetrieben entstanden, sondern immer durch private, oder bürgerliche Veranstalter und Gründungen. Man müsste also die Mittelverteilung anders organisieren. Jede Institution ist letztendlich faul, diese Faulheit ist aber klug, denn man tut das, was sich in der Vergangenheit bewährt hat."

Wenn man ins Konzertwesen schaut, so Tröndle, "dann sehen Sie, dass das Publikum des Konzerts drei, vier Mal schneller altert als der Durchschnitt der Bevölkerung. Relativ schnell wird diesen Institutionen das Publikum wegsterben."

Service

Martin Tröndle, "Das Konzert - Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, Transcript Verlag

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