Sammelband zu Zivilcourage
Mutige Menschen
Mut ist nicht zuletzt eine Frage des Zusammenhangs. In repressiven, totalitären Systemen kann Mut bedeuten, für eine Überzeugung das eigene Leben zu riskieren. In jedem Fall setzt Mutigsein voraus, das Risiko des eigenen Tuns zu kennen und bewusst einzugehen.
8. April 2017, 21:58
Das Buch "Mutige Menschen", herausgegeben vom deutschen Journalisten und Autor Ulrich Kühne, versammelt 34 Kurzbiografien und Beschreibungen von Frauen und Männern, die im Kontext ihrer Zeit auf verschiedene Weise Mut bewiesen haben. Dabei werden ganz unterschiedliche Menschen gewürdigt - die Sozialistin Clara Zetkin etwa oder Kurt Tucholsky, die Geschwister Scholl, der Verleger Peter Suhrkamp, Marlene Dietrich, Rudolf Augstein und Alice Schwarzer. Oder zwei türkischstämmige Schüler, die in Deutschland gegen die Zwangsverheiratung von Frauen protestieren.
Helfer vieler jüdischer Flüchtlinge
Unter den Porträtierten ist auch der Schweizer Polizist und Flüchtlingshelfer Paul Grüninger, geboren 1891. Grüninger hat einige tausend jüdische Flüchtlinge illegal in die Schweiz einreisen lassen und sie damit vor der Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten gerettet.
Zitat
Im März 1938 besetzten deutsche Truppen Österreich, wo ein Teil der Bevölkerung sie enthusiastisch begrüßte. In Wien begannen sogleich Pogrome gegen Jüdinnen und Juden, die massenhaft vertrieben werden sollten. Im Kanton St. Gallen, an der Grenze zu Österreich, trafen vollbesetzte Züge mit Emigranten ein - und die Schweizer Regierung verbot die Einreise von "Nichtariern". Hauptmann Paul Grüninger sah jedoch nicht Juden an der Grenze. "Rasse" oder Religion interessierten ihn wenig, er sah einfach Menschen. Er sah, in welcher Verfassung und wie verzweifelt sie waren. Er hörte von ihnen, was in Konzentrationslagern wie Dachau und Buchenwald geschah. So begann Grüninger in St. Gallen eine eigene Flüchtlingspolitik: Gegen die Weisungen des Bundes ließ er die Leute ins Land. Um ihre Einreise zu vertuschen, ließ er Dokumente fälschen. Bis heute weiß daher niemand die genaue Zahl der Flüchtlinge, die in den Jahren 1938 und 1939 an der St. Gallener Grenze gerettet wurden.
1940 wird Paul Grüninger für sein Tun vor Gericht gestellt und verurteilt. Nach seiner Entlassung findet er keine feste Anstellung mehr. Er stirbt verarmt und wird erst 23 Jahre nach seinem Tod rehabilitiert. Heute sind in Deutschland, in Österreich und Israel Plätze und Straßen nach ihm benannt - in Wien trägt eine Volksschule seinen Namen.
Frauen für den Frieden
Auch die im Vorjahr verstorbene deutsche Malerin und Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, geboren 1945, zählen die Autoren zu den "mutigen Menschen". Geboren und aufgewachsen im Osten Berlins, initiiert Bohley 1982 das parteiunabhängige Netzwerk "Frauen für den Frieden". Wegen des Verdachts auf Landesverrat kommt sie für sechs Wochen in Untersuchungshaft. 1988 wird sie bei einer Demonstration erneut festgenommen. Ein Jahr später gründet sie die DDR-Bürgerrechtsbewegung Neues Forum und beteiligt sich an der Organisation der Montagsdemonstrationen in Leipzig. Auch nach dem Ende der DDR macht sich Bärbel Bohley für Menschenrechte stark und setzt sich für Flüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien ein.
In "Mutige Menschen" findet sich ein Zitat von Bärbel Bohley:
Zitat
"Mut wächst meist, ohne dass man es bemerkt. Wenn er in einer existenziellen Situation plötzlich da ist und einem die Freiheit zum selbstbestimmten Handeln gibt, ist man sehr überrascht. Die Gedanken, die in den schlaflosen Nächten kommen und sich nicht vertreiben lassen, sind ein sehr starker Impuls für späteres Handeln. Man möchte etwas tun. Aber was? Wenn man in einer solchen Situation Menschen kennen lernt, die ähnlich denken und fühlen, dann ist man aufgehoben und stark in der Gemeinschaft."
Nur kurze Texte
Leider sind den porträtierten Menschen nur je zwei Buchseiten gewidmet - eine davon mit Kurzbiografie und großem Foto. Aufgrund der Kürze der Texte bleiben die individuellen Motive und Beweggründe vieler Porträtierter recht nebulos, ihre Persönlichkeiten teilweise unscharf. Dabei sind unter den Autoren des Buches so gewichtige Stimmen wie der streitbare Hitler-Biograf Joachim Fest oder der tschechisch-österreichische Schriftsteller Pavel Kohout, der den Verleger Jürgen Braunschweiger porträtiert. Von diesen Autoren hätte man gerne mehr gelesen.
Dazu kommt, dass die Auswahl der Porträtierten doch recht beliebig wirkt, der Mut-Begriff verschwimmt angesichts der doch so unterschiedlichen Risiken, die die beschriebenen Frauen und Männer mit ihrem Tun eingegangen sind. Im Nachwort heißt es:
Zitat
Im einen Fall nennt sich der Feind, den der Mutige bekämpft, das Unrecht. Im anderen die Trägheit. Wer sich gegen Unrecht auflehnt, ist immer einsam. Die Mehrheit ist gegen ihn. Der Mutige kann für seinen Standpunkt keine andere Instanz in Anschlag nehmen als sein eigenes Rechtsgefühl - und den Mut, dieses durchzusetzen, egal, was die Mehrheit meint oder tut. Die Auswahl der hier vorgestellten "Mutigen Menschen" mag mutig erscheinen - oder zumindest überraschend. Jedenfalls hat der Herausgeber, der nicht viel mehr getan hat, als sich umzuhören und alle Vorschläge von Mut zu akzeptieren, die ihm mit hinreichendem Enthusiasmus vorgetragen wurden, feststellen müssen, dass sich das Buch beinahe wie von selbst füllte.
Es hätte dem Buch nicht geschadet, wenn es sich ein bisschen weniger "wie von selbst" gefüllt hätte. Der großformatige Bildband in Hardcover und Hochglanz kommt gewichtig daher - und bleibt im Inhalt doch recht oberflächlich und ohne roten Faden. Man wünscht sich, dass der Herausgeber mehr Wert auf den Inhalt als auf die äußere Form gelegt hätte.