"Café Sonntag"-Glosse von Leo Lukas

Plädoyer für die Unschuldsvermutung

Hohes Gericht, Euer Ehren, werte verschworene Hörergemeinde! Ich möchte an dieser Stelle ein Plädoyer halten, stehe nicht an zu sagen: ein flammendes Plädoyer, und zwar für die Unschuldsvermutung.

Ja, ich gebe zu, in letzter Zeit wurde es inflationär strapaziert und stark abgenutzt, nachgerade verschlissen; hierzulande hauptsächlich im Zusammenhang mit einem nicht nur finanzamtsbekannten Herrn, der zu intelligent, zu gut ausgebildet, aus zu gutem Hause und zu schön für alles ist - und sich nicht entblödet hat, dies auch noch im Fernsehen zu verlesen.

Nun hält sich meine Sympathie für windige Finanzgenies, die über ein Mordstrumm Ego, jedoch keinen Genierer verfügen und es schick finden, wenn ihr Name zu drei Initialen abgekürzt wird, durchaus in Grenzen. Aber darum geht's nicht. Auch wenn man jemandem peinlich penetrante Präpotenz und in Folge flächendeckende Unmuts-Verschuldung anlasten kann - das ändert nichts an Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, demgemäß jede einer Straftat angeklagte Person bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten hat. Und das ist gut so.

Mhm. Jede Person. Auch KHG, HPM oder DSK.

Wie meinen? Diese Fälle dürfe man nun wirklich nicht in einem Atemzug nennen? DSK, also Dominique Strauss-Kahn, der Chef des Internationalen Währungsfonds, wurde schließlich wegen versuchter Vergewaltigung inhaftiert, was beim bösesten Willen nicht vergleichbar sei mit, nennen wir's: nicht ganz lupenreinem Umgang mit öffentlichen Geldern, oder?

Abermals: Darum geht's nicht. Es spielt keine Rolle, wie grauslich das Delikt ist, dessen jemand verdächtigt wird, und inwieweit man's ihm nach seinem bisherigen Verhalten zutraut. Ihn persönlich muss man nicht mögen und auch gar nicht verteidigen; für Letzteres gibt's Anwälte. Sein Grundrecht auf Unschuldsvermutung hingegen sollte uns allen am Herzen liegen. Niemandem darf es genommen werden, genau so wenig wie die Menschenwürde.

Das ist jetzt, 'tschuldigung, keine sonderlich lustige Schlusspointe. Ich danke gleichwohl für Ihre Aufmerksamkeit.