500 kleine Werke von großen Künstlern

Das Schubladenmuseum

Der Schweizer Künstler Herbert Distel bereitete 1969 seine Ausstellung in einer Galerie in Brüssel vor, als er dort ein faszinierendes Möbelstück entdeckte. Es war so schön, dass er es besitzen wollte: ein ausrangierter Kasten für Nähseidenspulen, der wie ein Wolkenkratzer-Modell aussah und mit 186 Zentimetern so groß wie ein Mensch war.

Der Brüsseler Galerist verwahrte in den in kleine Fächer unterteilten Schubladen Nägel, Schrauben, Haken und anderes Kleinzeug auf. Trotz Distels Überredungsversuchen wollte er das nützliche Objekt nicht abtreten. In Zürich machte Herbert Distel ein weiteres Exemplar ausfindig, das ihm von der Nähseidenfirma Gütermann überlassen wurde. Einige Zeit stand der schöne Kasten nutzlos in seinem Atelier herum. "Plötzlich war die Idee da, ein Museum daraus zu machen. Das habe ich dann gegen Ende des Jahres 1970 in Angriff genommen mit ersten Briefen, die ich an Künstler geschickt habe. Die Antworten waren sehr positiv und ermunterten mich weiterzumachen."

Kunst im Kasten

Herbert Distel wollte den Kasten mit Kunst füllen: zwanzig Etagen mit je 25 Fächern, das ergibt 500 Ausstellungsräume für ebenso viele Werke. Die einzige kuratorische Vorgabe war die Beschränkung auf den Raum eines Faches, also: 5,7 mal 4,8 Zentimeter Grundfläche bei 4,3 Zentimeter Höhe. Nur wenige Künstler lehnten die Herausforderung ab.

Das Schubladenmuseum enthält Plastiken, Graphiken, konzeptuelle Handlungsanweisungen, Gemälde, Fotos, Installationen - es verdichtet die Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem schmalen Kästchen, das in jede Wohnung passt.

Der Zehennagel von Joseph Beuys

Donald Judd verkleidete seinen Raum mit Zinkblech. John Baldessari schenkte eine eingerollte Dollar-Note, "ohne Titel", mit der Materialbeschreibung "bedrucktes Papier". John Giorno füllte sein Fach mit dem Inhalt eines Aschenbechers. Lilly Keller webte einen briefmarkengroßen Wandteppich. Claes Oldenburg, bekannt für seine überdimensionierten Alltagsobjekte, stiftete eine Grafik auf Zentimeterpapier. Von Man Ray bekam das Schubladenmuseum ein Fotoportrait der Künstlerin Meret Oppenheim, die ebenfalls einen Raum bespielt. David Hockney portraitierte den Museumsgründer Herbert Distel in Tusche auf Papier.

Der Beitrag von Joseph Beuys befindet sich auf Ebene 7, also in der siebten Schublade von oben, ganz rechts, im mittleren Raum. Es ist ein Zehennagel. Distel führt aus: "In einem Begleitbrief, den er mitgeschickt hat, schreibt er: Ich habe mir diesen Zehennagel während drei Monaten aus mir heraus wachsen lassen. Typisch Beuys, denke ich, dieser Bezug auch auf das Material, alle diese fast Urmaterialien, der Zehennagel, der abgeschnitten zur Reliquie wird. Aber im Brief schreibt er weiter: Es ist vielleicht - und das unterstreicht er - nicht unwichtig, was ich dabei gedacht habe. Und das ist die Beuys‘sche Dimension: Der Nagel ist ein totes Stück, zufälligerweise von ihm. Aber was er, Beuys, gedacht hat während dieser drei Monate, darüber könnten wir vermutlich mehrere Bücher schreiben."

Die Leere des Marcel Duchamp

Besonders wichtig war Herbert Distel, dass jener Künstler vertreten ist, der die Kunst des 20. Jahrhunderts revolutioniert hatte: Marcel Duchamp. Ohne ihn gäbe es wohl weder Pop Art noch Konzeptkunst - und auch kein Schubladenmuseum im Nähseidenkasten, einem exemplarischen objet trouvé. Mit seiner "Boite-en-valise" von 1941, einem Koffer mit Reproduktionen seiner wichtigsten Arbeiten, hatte Duchamp einen Vorgänger für Herbert Distels Schubladenmuseum geschaffen: ein Kunstdepot im Kleinformat, ein tragbares Museum, das um die Welt geschickt werden konnte.

Nachdem Duchamp 1969 verstorben war und sich in seinem - ohnehin überschaubaren Werk - kein Stück Minikunst befindet, beschloss Herbert Distel, bei der Witwe, Alexina "Teeny" Duchamp, in New York vorzusprechen: "Sie sagt, sie will sich das ganz genau überlegen. Nach einiger Zeit kam die Antwort, das Duchamp diesen Raum als sein Werk genommen hätte, in seiner Leere. Es ging mir wie ein Blitz durch den Kopf: dies war wirklich das letzte Werk von Duchamp."

Museum auf Tournee

Nur ein einziges Werk, das ihm angeboten wurde, lehnte Herbert Distel ab: jenes von Salvador Dalí, der ihn in seinem Atelier im katalonischen Figueras empfing. Der Künstler hatte die Spende an die Bedingung geknüpft, dass das Schubladenmuseum in sein eigenes Museum übergehen müsse. Das lehnte Herbert Distel ab, hatte er doch vor, es einer öffentlichen Sammlung zu überantworten. Bereits 1972 war das transportfähige Objekt, das in der Summe der Einzelwerke selbst ein Kunstwerk ist, bei der documenta in Kassel ausgestellt. Es folgten Präsentationen in Israel, Brasilien, den USA und in vielen europäischen Ländern, so auch bei der Biennale von Venedig, 1986.

Musik-Miniaturen

Nicht nur in der Kunstwelt fand Distels Projekt Beachtung. Das Konzept, viele Kleinstwerke in der Menge zu einem großen Gesamtwerk zu verbinden, wurde von einem britischen Musiker aufgegriffen. Der Keyborder Morgan Fisher war in den 1970er Jahren mit den Bands "The Love Affair" und "Mott the Hoople" erfolgreich und tourte später mit "Queen" durch Europa. Morgan Fisher lud 50 Musikerinnen und Komponisten ein, Stücke von jeweils einer Minute Länge beizusteuern. Erschienen sind die Sound-Miniaturen 1980 auf dem Album "Miniatures". Auch Herbert Distel, mit dem Morgan Fisher die Vorgehensweise bei der Miniatures-Zusammenstellung konsultiert hatte, lieferte eine Minute akustischer Kunst. Neu war ihm diese Kunstform nicht: "Dadurch, dass ich so intensiv nur mit bildender, visueller Kunst zu tun hatte, verschlug es mich immer mehr ins Auditive. Ich habe gegen Ende der 1970er bereits mehrere experimentelle Sound-Arbeiten gemacht, und so kam ich zu der Ehre, auch eine Miniature für Morgan Fisher machen zu dürfen."

Das Ende einer Epoche

Mit Hörkunst und mit dem Verhältnis von Ton und Bild beschäftigt sich Herbert Distel intensiv, seit er die Schubladenmuseumsarbeit abgeschlossen hatte. 1977 war das letzte Fach besetzt. Die Vollendung des Museums fiel mit dem Ausklingen einer kunsthistorischen Epoche zusammen. Die Zukunftsversprechen der Moderne gehörten Ende der Siebziger Jahre der Vergangenheit an.

Mit Unterstützung der Julius Bär Stiftung ging das Schubladenmuseum mit seinen 500 Miniaturkunstwerken und mitsamt dem begleitenden Schriftverkehr, den Transportkisten und dem Sockel, auf dem der Kasten steht - dem Kunstwerk Nummer 501 - in die Obhut des Kunsthaus Zürich über. Nach Restaurierungsmaßnahmen ist es dort nun bis Anfang September 2011 ausgestellt, und zwar in seiner Gesamtheit, das heißt: alle 20 Schubladen sind herausgezogen und unter Glasstürzen einsehbar. "Es war mir immer wichtig", sagt Distel, "dass es integral gezeigt wird. Alle Künstler haben gleich kleine Räumchen, daher muss es auch bei Ausstellungen für alle die gleichen Voraussetzungen geben. Das geht nur, wenn man die Schubladen in Vitrinen ausstellt. Natürlich spielt da auch ein demokratischer Gedanke mit."

Das Museum im digitalen Zeitalter

Damit die einzelnen Räume auch dann eingehend betrachtet werden können, wenn sich mehrere Besucher gleichzeitig um eine Schublade drängen, werden die Originalwerke durch an die Wand projizierte Abbildungen ergänzt. Wie alle "großen" Kunsthäuser, ist auch das Museum im Nähseidenkasten im Internet vertreten: online kann man den Museumsturm wie einen Wolkenkratzer in der Aufzugkabine durchreisen, in den Etagen aussteigen und die Abbildungen der kleinen Kunstwerke auf dem Bildschirm beliebig groß anschauen.