"Café Sonntag"-Glosse von Severin Groebner

Literatur und Gesellschaft

Literatur sagt stets etwas über die Gesellschaft aus. Und zwar in zwei Richtungen. Einerseits aus welcher Gesellschaft sie entstammt und andererseits von welcher Art Gesellschaft sie rezipiert wird.

Wie man in das Buch hinein ruft, so ruft es also auch zurück heraus. Vielleicht liegt es daran, dass das Papier darin mal Holz im Wald war.

Nehmen wir zum Beispiel: Schweden. Ein Land mit viel Licht im Sommer und wenig im Winter, einem nach wie vor ausgeprägtem Sozialstaat, hohem Alkoholkonsum, einer - im Vergleich zu anderen Ländern - lächerlichen Kriminalstatistik und den meisten Krimiautoren pro Kopf in Europa.

Da fragt man sich doch: Zieht die Abwesenheit von realen Verbrechen den Wunsch nach sich, wenigstens literarisch eines zu begehen?

Auf der anderen Seite: Lateinamerika. Ein Kontinent mit einer literarischen Tradition, die sich gern im Fantastischen ergeht, wo Dämonen auftauchen und in der so mancher Autor die Wirklichkeit auf buntbemalten Schmetterlingsflügeln verlässt. Aber, vielleicht braucht man das ja, um soziale Konflikte, politische Wirren, sich bekämpfende Drogenbanden, Guerrillatrupps und paramilitärische Einheiten zu verarbeiten.

Ist also die Literatur stets das Gegenbild zur aktuellen Realität? Das wär schön, aber dann müssten ja aus Somalia die schönsten Kinderbücher kommen, aus Griechenland und Portugal brillante Wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen und aus Österreich die aufregendsten, engagiertesten, flammendsten, politischen Pamphlete.
Und das ist ja bekanntlich nicht so.

Also gewinnt die Realität auch.

Das äußert sich dann in Verkaufszahlen. Genauer gesagt in Bestsellerlisten. Und Bestsellerlisten gibt es mittlerweile ja fast so viele wie Bestseller.

Im Bereich Belletristik gibt es zur Zeit zum Beispiel unter den Top Ten folgendes: einen Liebesroman vor historischer Kulisse, einen, der in Barcelona spielt, ein Buch über Deutsche in Österreich, das Neueste vom französischen Enfant terrible, ein Psychodrama, vier Krimis und auf Nummer eins einen Roman über Alzheimer. Ist der österreichische Leser also ein heimlicher Romantiker, der sich gern was von den Deutschen erzählen lässt, fasziniert ist von Franzosen, psychischen Abgründen und allerlei Gewaltverbrechen und der das Vergessen über alles liebt?

Naja, vielleicht helfen hier eher die zehn beliebtesten Sachbücher weiter: Hier gibt es Werke von einem Mathematiker über Gerechtigkeit, eins über Korruption in Österreich und eins über Tschernobyl, ein Kochbuch, aber zwei Abhandlungen übers Abnehmen, je ein Werk über Jesus Christus und Udo Proksch und eines über das Wunder der Selbstliebe.

Sind wir demnach alles Menschen, die sich stets ungerecht behandelt und ausgeplündert vorkommen, voller Angst vor dem atomaren Super-GAU, dabei gerne zuviel fressen und auf der Suche nach uns selbst, großen Verführern erliegen?

Hm. Auf jeden Fall sehr bezeichnend find ich folgenden gut verkauften Titel:
Fuck it - Loslassen, Entspannen, Glücklich sein.

Da möchte ich gleich den Fortsetzungs-Band dazu zu verfassen: Ein Buch über Respekt, Höflichkeit und den Sinn von guten Manieren mit dem Titel "Motherfucker".
Nein, das würde mir niemand abkaufen. Also weder so noch so. Dennoch, gibt es auch Unglaubliches, wenn man auf Platz 13 der Bestsellerliste eines großen Internet-Buchhändlers schaut: Hier findet sich ein Werk von drei Autoren und Innen mit den schönen Nachnamen Schnarch, Trunk und Pfaff. Und das Buch dazu heißt: "Die Psychologie sexueller Leidenschaft".

Da sieht man: die Gesellschaft, in der man sich bewegt, ist aber auch immer ein wenig freiwillig gewählt. Man ist auch letztendlich selber daran schuld, ob man sich in guter, in schlechter oder gar in der besseren Gesellschaft befindet.

Und so vertraue ich nach wie vor den Empfehlungen meiner Buchhändlerin, denn da weiß ich: Hier bin ich in bester Gesellschaft. Und kann lesen, was ich will.