Architektur und Geschichte von Bibliotheken

Die Weisheit baut sich ein Haus

Seit der Antike dienen Bibliotheken als Speicher des Wissens und als kulturelles Gedächtnis, sie gehören somit zu den ältesten Gebäudetypen. Die bedeutendsten Architekten widmeten sich seit der Renaissance dieser Bauaufgabe - Michelangelo und Johann Bernhard Fischer von Erlach, Karl Friedrich Schinkel und Hans Scharoun, Alvar Aalto und Mario Botta. Bibliotheken nehmen damit in der Geschichte der Architektur eine herausragende Stellung ein.

Kulturjournal, 13.07.2011

Sie war die berühmteste Bibliothek der Antike: die Bibliothek von Alexandria, Teil des Museion, einer Art Universität, die König Ptolemäus I. nach dem Vorbild der athenischen Philosophenschulen errichten ließ. Und sie hatte ein ehrgeiziges Ziel: "alle Bücher aller Völker" zu versammeln, das gesamte Wissen der Welt an einem Ort. Auf 700.000 Schriftrollen wurde ihr Bestand geschätzt. Bei der Invasion Cäsars geriet ein Teil der Schätze in Brand, später, nach der Eroberung Alexandrias durch die Araber, wurde der Rest der Sammlung vernichtet.

2.300 Jahre nach der Gründung der legendären Bibliothek hat die Hafenstadt am Mittelmeer einen Nachfolger, die "Bibliotheca Alexandrina". Keine Universalbibliothek, sondern einen modernen Wissensspeicher, gebaut von der norwegischen Architektengruppe Snohetta und eröffnet 2002. Unter einem schräg angeschnittenen Zylindersegment mit 160 Meter Durchmesser befindet sich der wohl größte Lesesaal der Welt, mit Platz für 2.000 Besucher, umschlossen von einer Wand, in die reliefartig Schriftzeichen aller Sprachen aus allen Zeiten eingelassen sind: Symbol für die Universalität des Informationsaustauschs, des Wissens und der Verständigung.

"Einige der schönsten Bauten"

Von der antiken Bibliothek zum digitalen Wissensspeicher, vom Rückzugsort der Buchgelehrten zum Treffpunkt der Informationsjunkies - diese Entwicklung zeigt auch eine von Winfried Nerdinger kuratierte Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne, die anhand von Plänen, Modellen, Fotos und Filmen Bedeutung, Geschichte und Architektur von Bibliotheken rekapituliert und dabei natürlich auch die beiden aus Alexandria berücksichtigt.

"Einige der schönsten Bauten und Räume der Architekturgeschichte sind Bibliotheken", sagt Nerdinger. "Denken Sie an die barocken Klosterbibliotheken, die Hofbibliothek in Wien oder Bauten des 19. Jahrhunderts mit leichten, filigranen Eisenkonstruktionen wie die Bibliothèque nationale... Bibliotheken gehören zu den frühesten Bauaufgaben der Menschheitsgeschichte und begleiten den Menschen durch Jahrhunderte."

"Die Weisheit baut sich ein Haus" heißt - ein Wort des Predigers Salomo zitierend - die informative und anregende Schau, und in der ersten Abteilung der Ausstellung erweist der Architekturhistoriker und bekennende Bibliomane Winfried Nerdinger dem Architekturhistoriker und bekennenden Bibliomanen Werner Oechslin die Reverenz. Ein Riesenfoto zeigt einen Ausschnitt aus Oechslins gewaltiger Privatbibliothek in Einsiedeln, und in Vitrinen liegen aufgeschlagen historische wissenschaftliche Werke, die sich mit der Ordnung der Bücherwelt beschäftigen.

"Einer der ganz großen, berühmten Bibliothekare, Naudé, hat das einmal so definiert: Er sagte, eine Ansammlung von 30.000 Menschen ist noch keine Armee und eine Sammlung von 50.000 Büchern ist noch keine Bibliothek", sagt Nerdinger. "Das Wesen einer Bibliothek ist nicht, dass sie gedrucktes Papier versammeln, das Wesen der Bibliothek ist die Ordnung: dass Sie das in diesen Büchern enthaltene Wissen wieder finden können und nutzen können. Dass es also aufgeschlossen ist."

Zunahme mit Erfindung des Buchdrucks

Bibliotheken gibt es seit der Antike. Die alten Ägypter kannten das Gottesbücherhaus, wo Papyrusrollen mit wichtigem religiösen Wissen gesammelt, und das Lebensbücherhaus, wo diese Schriften kopiert wurden. Im alten China gab es Steinbibliotheken mit Hunderten von Stelen, in die wichtige Schriften hineingemeißelt wurden. Als mit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts die Buchproduktion sprunghaft anstieg, nahm auch der Bau der Bibliotheken zu, zunächst initiiert von Klöstern und Universitäten.

"In der Renaissance kommen dann die ersten öffentlichen Bibliotheken", erklärt Nerdinger. "Aber im Wesentlichen gehen die Fürsten- und die Klosterbibliotheken weiter. Eine wirklich radikale Änderung kommt mit den public libraries in England und dann in den USA; dass man sagt, Wissen ist Macht und jeder hat das Recht, sich mit Wissen auch zu entfalten - und das Wissen muss zugänglich gemacht werden."

Vision einer Universalbibliothek

Es gibt öffentliche und Privatbibliotheken, National- und Stadtbibliotheken, Bibliotheken mit Saal-, Zentral- und Turmbauten, es gibt Pult-, Wand-, Magazin- und Speicherbibliotheken. Das Thema Bibliothek ist faszinierend vielfältig, nicht nur in architektonischer Hinsicht. Nicht zuletzt ist es auch ein Spiegel menschlichen Wissensdrangs und faustischer Hybris.

Die Vision der Universalbibliothek beispielsweise, die schon den Gründer der Bibliothek von Alexandria umtrieb, bewegte auch in späteren Zeiten die Geister. Der französische Architekt Boullée träumte 1785 von einer riesigen Halle mit unendlichen Buchreihen, die sich zum Himmel hin öffnen sollte - einer "Bibliothèque du roi", die alle Bücher der Welt enthalten sollte. Le Corbusier plante um 1928 ein sogenanntes "Mundaneum" in Genf, ein Weltmuseum mit großer Bibliothek und Verwaltungsbauten, das in einer riesigen Pyramide kulminieren sollte. Und der russische Architekt Ivan Leonidov entwarf zur gleichen Zeit einen Hochhausturm für 15 Millionen Bände und einer an Stahlseilen aufgehängten Weltkugel des Wissens. In Zeiten wie unseren freilich, in der Jahr für Jahr mehr als eine Million neuer Bücher auf den Markt kommt, ist der Traum von der Universalbibliothek ausgeträumt. Heute ist nicht mehr die Quantität der Medien das Entscheidende.

"Entscheidend oder immer wichtiger wird, dass man dem Nutzer Möglichkeiten bietet, an diese Informationen zu kommen", meint Nerdinger, "dass er also die entsprechenden Möglichkeiten zum Navigieren findet. Und das verändert die Struktur von Bibliotheken. Da zeigen wir insbesondere die Mediathek in Sendai von Toyo Ito, die ein ganz offener Bau ist, ganz bewusst. Bibliotheken sind ja eigentlich dadurch gekennzeichnet gewesen, dass sie sich abschließen, es sind immer auch Schatzhäuser des Wissens, Meditationszentren. Diese Mediathek ist etwas völlig anderes, es ist ein gläserner Bau, durch den diese Stadt hindurchgeht, man wird hineingezogen und kann auch wieder hinausgleiten in dieser offenen Architektur, die hier wie so eine Informationslounge, wie ein Warenhaus der Kommunikation konzipiert ist."

So viele neue Bibliotheken wie nie zuvor

Ist das die Zukunft - Toyo Itos gläserne Mediathek in Sendai? Aber wird es dereinst überhaupt noch Bibliotheken geben - gebaute und nicht nur virtuelle? Sind sie nicht zu teuer, zu starr, zu beschränkt? Dem vielfach prognostizierten Ende der Bibliotheken widerspricht, dass gerade in den letzten Jahren so viele repräsentative Bibliotheken gebaut wurden wie nie zuvor. Wenn aber keiner mehr ein Buch benutzt, braucht man dann noch eine Bücherei?

"Wenn jemand schon mit einer Art iPad aufwächst, wenn er erst gar nicht mehr ein Buch bekommt, sondern dieses Buch in sein elektronisches Regal ins iPad gestellt bekommt, wenn er seine private Bibliothek von Kindesbeinen auf mit sich trägt und das gewohnt ist, so zu bedienen und diese Möglichkeiten auszuschöpfen, dann kann es sein, dass einmal eine Generation da sein wird, die wirklich nur noch ins Museum geht, um ein Buch anzuschauen", befürchtet Nerdinger.

Die Weisheit baut sich kein Haus: Das mögen sich Büchernarren wie Winfried Nerdinger lieber nicht ausmalen. Weil mit Bibliotheken auch eine besondere Form der Gemeinschaft, der Kommunikation, der intellektuellen Kultur verloren ginge - und mit den Büchern auch ein sinnliches Erlebnis. Dieser Meinung sind wohl auch die Betreiber der neuen "Bibliotheca Alexandrina". Hier gibt es nicht nur moderne Arbeitsplätze mit Touchscreen-Monitoren, sondern auch eine der wenigen Espresso-Book-Machines, mit denen man in Minutenschnelle seinen Lieblingstext gedruckt und gebunden bekommen kann - Schwarz auf Weiß und auf Papier.

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Bibliotheca Alexandrina
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