Soundtrack einer Generation
Kassettendeck
Als das deutsche Eurovisions-Wunderkind Lena ihr erstes Album "My Cassette Player" nannte und von den kaum erträglichen Auswirkungen seines Verschwindens sang, verstanden viele die Welt nicht mehr. Tatsächlich scheint es im MP3-Zeitalter kaum etwas Uncooleres zu geben, als die Audiokassette. Der Musikjournalist Jan Drees und der DJ Christian Vorbau haben nun eine vielseitige Hommage in Buchform herausgebracht.
8. April 2017, 21:58
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Die guten alten Zeiten. Analog. Noch gute Musik. Mit der Hand gemacht. Zappa, Talk Talk, XTC, Fehlfarben. Sony oder Aiwa, Maxell oder lieber TDK? Nakamichi! Wahnsinn! Und so weiter. Die eben noch Teil einer Jugendbewegung waren, sind jetzt schon Veteranen der Popkultur.
"Keine Atempause, Geschichte wird gemacht es geht voran!", heißt es im Text von "Es geht voran" der Band Fehlfarben. Tja, oft geht es schneller voran, als man sich wünschen kann. Gerade noch haben wir uns lustig gemacht über die langhaarigen, rauschebärtigen Freaks in muffigen Plattengeschäften, die nichts Neues gelten ließen und stets das Original aus den guten, alten Sixties für unerreichbar hielten. Und jetzt lichten sich die grauen Wiesen auf unseren Schädeldecken und auch wir blicken gern zurück auf unsere kolossale Jugend in den 1970er und 80er Jahren. Unerlässlicher Einstieg in jegliche musikalische Herzensbildung war die Audiokassette, meist knallbunt, fast immer günstig und vor allem unbegrenzt bespielbar.
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Eine Haltung! Eine Lebenseinstellung! Revolutionär! Mag sein, dass MP3-Player dem Tape technisch überlegen sind. Aber niemand wird ein Buch darüber schreiben müssen, dass er mal MP3-Dateien oder CD-Rohlinge liebte.
Als Diktiergerät gedacht
Rein technisch gesehen war die Audiokassette ein Übergangsmedium. 1963 stellte die Firma Philips auf der Funkausstellung in Berlin die erste "Compact Cassette" und den dazugehörigen "Kassettenrekorder" vor. Die Erfindung war eigentlich als Diktiergerät gedacht, wurde aber bald als einfaches und billiges Speichermedium für Musik entdeckt. Schon damals reagierte die um ihre Einkünfte besorgte Musikindustrie geradezu panisch mit Kampagnen wie "Home Taping Is Killing Music". Von kommenden technischen Entwicklungen und dass damit alles noch viel schlimmer würde, hatte man noch keine Ahnung. Als 1982 die ersten CDs auftauchten, wurden die kühlen "Silberlinge" meist noch belächelt, denn die Tapes waren vor allem eines: persönlicher Ausdruck des individuellen Musik- und Styling-Geschmacks. Erinnern wir uns nur an die aufwendig designten und akribisch zusammengestellten Mixtapes für den aktuellen Schwarm.
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Mein Gott, wie lange hat man über den ersten Song auf dem Tape nachgedacht? Doch bloß nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Und wichtig war ja auch der letzte Song. Der wurde oft unterschätzt. Der letzte Song blieb doch in Erinnerung. Wie der letzte Satz in einem Liebesbrief, so wichtig war der.
"Alpha Super Plus 90", "King Sonic" oder "Scotch High Engergy Super Ferric Extra Performance" stand auf den Leerkassetten, die zumeist im C60, C90 oder C120-Format verkauft wurden. Die Techniktüftler konnten sich stundenlang über klangliche Qualitätsunterschiede von Chromdioxid- oder Reineisen-Beschichtungen, Dolby B- oder Dolby C-Rauschunterdrückung austauschen. Für den gewöhnlichen Verbraucher waren eher niedriger Preis, hohe Robustheit und außergewöhnliche Farbgestaltung der kleinen Datenträger aus Kunststoff entscheidend.
Persönliche Kompilationen erstellen
Das Kassettendeck war vor allem aus einem Grund so beliebt: Man konnte damit Musik direkt aus dem Radio aufnehmen und musste nicht jede Schallplatte selbst erwerben. Oft kaufte sich einer aus der Clique ein Album und die anderen kopierten es auf Kassette. Beim Nächsten war der Nächste dran und so weiter. Manch einer nahm auch mit dem Rekorder direkt vom Fernsehgerät auf, wenn dort Shows wie "Spotlight" oder "Die großen Zehn" liefen. Die restlichen Familienmitglieder wurden gebeten, sich während der Tonaufnahmen leise zu verhalten.
Der besonders ambitionierte Musikliebhaber wiederum wagte sich mit einem Walkman mit Record-Funktion ausgerüstet zu Live-Konzerten, um dort möglichst unentdeckt mitzuschneiden. Denn erlaubt war das nicht. Das Verbreiten der "Bootlegs" noch viel weniger.
Eigene Covergestaltung
Wichtig war danach natürlich auch die eigenhändige Gestaltung der Kassetten-Covers. Stilistisch gab es kaum Grenzen. Von der beliebten Collage mit aus Zeitschriften ausgeschnittenen Fotoschnipseln bis zu aufwendigen Mikro- und Makro-Zeichnungen konnte man darauf alles platzieren. Für die perfekte Beschriftung eines Mixtapes für die Angebetete steuert der Autor Benjamin Stuckrad-Barre ein paar Tipps bei:
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Auf gar keinen Fall darf zu Schreibmaschine oder gar Computer gegriffen werden, das finden Mädchen nämlich "langweilig" oder gar "uncool". Sie denken dann wohl, dass man den ganzen Nachmittag am Bildschirm hockt und Telespiel-Rekorden nacheifert. Natürlich tut man das auch gelegentlich, aber die Mädchen dürfen und müssen das ja nicht gleich zu Beginn erfahren.
Mixtape mit Spaßfaktor
Das Buch "Kassettendeck" funktioniert wie ein Mixtape. Es ist gespickt mit Interviews und Beiträgen über die Bedeutung der Kassette für die unterschiedlichsten Bands und Stile - von den Beatles über die Hamburger Schule bis zu Hip Hop und Techno. Es ist voller Erlebnisse, Anekdoten und analytischer Rückblicke unter anderem von Smudo von den Fantastischen Vier, Techno-Legende Westbam und Autor Peter Glaser. Außerdem inkludiert: ein sechsteiliger Kurzroman, Hörspielausschnitte, Tape-Installationen und eine Abhandlung über die Bedeutung des legendären C86-Mixtapes des NME.
"Kassettendeck" ist eine überaus vergnügliche Hommage an ein handliches Medium, das Jahrzehnte lang so selbstverständlich seinen Zweck erfüllte, dass ihm scheinbar niemand Beachtung schenkte. Und jetzt, wo man kaum mehr Leerkassetten zu kaufen kriegt, ist die Zeit reif für Reminiszenzen aller Art. Das Buch "Kassettendeck" kann man einlegen und von vorn bis hinten durchlesen oder aber vorspulen und so weniger interessante Kapitel überspringen. Man kann es aber nicht wie eine iTunes-Wiedergabeliste neu sortieren. Man kann es auch nicht uploaden und auf Filesharing-Plattformen stellen und auch sonst nicht digital weiterverwerten. Es ist sperrig, wie ein Buch aus Papier eben ist und – wie Jochen Rausch im Vorwort schreibt: "Es ist in Zeiten von iPhone, iPad, Kindle ein geradezu romantisches Statement, inhaltlich und formal."
service
Jan Drees, Christian Vorbau, "Kassettendeck. Soundtrack einer Generation", Eichborn Verlag
Eichborn - Kassettendeck