Der postkommunistische Übergang
Russland
Es war ein regelrechtes Wunder, was vom 19. bis 21. August 1991 in Moskau geschah: Die kommunistische Diktatur löste sich ohne ein größeres Blutbad selbst auf - und damit ging auch eine ganze Zivilisation inklusive Wirtschaftssystem unter, ein ganzer Staat, sowie ein Imperium. Die Nachwirkungen sind im heutigen Russland unübersehbar.
8. April 2017, 21:58
Die beiden Soziologen Lev Gudkov und Viktor Zaslavsky holen für ihre postkommunistische Ortsbestimmung Russlands weit aus. In zwei Teilen und fünfzehn Kapiteln analysieren sie die Mühen der Ebene seit Gorbatschow: den Übergang von Planwirtschaft und Einheitsideologie zu ersten Versuchen marktwirtschaftlicher Reformen unter Jelzin; was diese Veränderungen für die Arbeiterklasse bedeuteten, wie die Gewerkschaften sich verhielten, was "Privatisierung" der gigantischen eurasischen Landmasse überhaupt bedeutet und wie dabei die sogenannten Oligarchen auf den Plan traten.
Im zweiten Teil wird die Gegenbewegung zu Jelzins wackligen Reformen unter Wladimir Putin interpretiert. Längst steht in Russland wieder Re-Verstaatlichung auf dem Plan; Putin hat mittlerweile ein autoritäres Regime mit einiger "demokratischer" Tarnung errichtet und das Land treibt abermals auf eine Stagnation zu - jenen Zustand, der Mitte der 1980er Jahre durch Gorbatschows Perestrojka überwunden werden sollte.
Angst vor Veränderungen
Zentrale These, was den Beginn der Reformen betrifft, die mit einer Unzahl an demokratie-politischen Defiziten einhergehen: Jelzin rührte den sogenannten militärindustriellen Komplex, also jenen Wirtschaftskoloss, der das Land zu einer vor Waffen strotzenden Supermacht gemacht hatte, viel zu lange nicht an. Und: Die Reformen blieben aus Angst vor Veränderungen und Verlust wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabilität sogleich stecken. Das, worauf die Bevölkerung mit der Einführung der Demokratie auch gehofft hatte, stellt sich nur zögerlich ein.
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Neue Arbeitsplätze entstanden nur sehr langsam, weil die Betriebsleitungen mittels verzögerter Lohnauszahlungen und Zwangsbeurlaubungen ineffiziente Arbeitsplätze erhielten.
Das war die Zeit, als in High-Tech-Betrieben Kleiderschränke hergestellt wurden oder Offiziere der Sowjetarmee an der Straßenecke Kartoffeln verkauften, um ihr nacktes Überleben zu sichern; als Lehrer und Ärzte abwechselnd monatelang keine Gehälter bekamen, von den Pensionen ganz zu schweigen.
Kein Streikrecht
Der Verfall des staatlichen Sektors ging währenddessen rasant vor sich: Von 1991 bis 2000 schrumpfte er von 75 auf 38 Prozent. Ein funktionierendes privates Gegengewicht war dabei nicht in Sicht. Bemerkenswert ist, wie in dieser Situation die russischen Gewerkschaften als Vertreter der "Werktätigen" agierten. Sie kümmerten sich einzig und allein darum, ihre Pfründe nicht zu verlieren. Entlarvend die Erklärung von Gudkov und Zaslavsky:
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Mindestens vier Generationen sowjetischer Arbeiter kannten kein Streikrecht, de facto war es ihnen verboten, freie Gewerkschaften aufzubauen.
Freie Gewerkschaften sind auch bis heute kaum in Sicht - trotz diverser Streikwellen seit der Perestrojka und einem permanenten Anstieg von Arbeitskonflikten. Mitte der 1990er Jahre gab es zum Beispiel jährlich bis zu 17.000 Streiks mit bis zu 900.000 Streikenden. Die Aussage eines russischen Energieministers Ende der 1990er Jahre ist höchst bezeichnend für das "soziale" Klima im Land.
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Ein Bergarbeiter hat nicht mehr Recht, seinen Arbeitsplatz zu verlassen, um zu streiken, als ein Soldat das Recht hat, seine Waffe niederzulegen!
Aufstieg der Oligarchen
Die zweifellos wichtigste Veränderung im neuen Russland der 1990er Jahre war die Privatisierung des Staatseigentums: Profitierten in einer ersten Phase ausschließlich Mitglieder der alten Nomenklatura, trat mit der Privatisierung im großen Stil und der Einführung des Eigentumsrechtes mittels sogenannter "Vouchers" eine neue Kaste junger Finanzhaie auf den Plan: Während die Belegschaften sanierungsbedürftiger Staatsbetriebe keine Ahnung hatten, was sie mit ihren Anteilsscheinen anstellen sollten, teilten sich die ehemaligen Komsomolführer und jungen Akademiker das Volksvermögen untereinander auf.
Am Ende dieser oft gewaltsamen "Akkumulation" standen die sogenannten Oligarchen. Das große Los hatten jene gezogen, die - in der Zeit steigender Rohstoffpreise - im Bereich Rohstoffe zockten. Die Reaktion der Bevölkerung wäre vorhersehbar gewesen, meinen Gudkov und Zaslavsky.
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Die überwältigende Mehrheit der Russen ist überzeugt, dass die großen Vermögen grundsätzlich illegal erworben seien, und betrachtet die Besitzansprüche der Oligarchen als unrechtmäßig.
Rückverstaatlichungsaktionen unter Putin
Was man als zentralen Gegenstand von "Verteilungsgerechtigkeit" in höherem Sinn ansehen könnte, ist der Kern von Wladimir Putins Politik, die bisweilen als Plan des ehemaligen KGB bezeichnet wird, die Macht in Russland zu übernehmen: Gudkow und Zaslavsky behaupten das nicht explizit, führen aber aussagekräftige Zahlen an:
Seit Putins Rückverstaatlichungsaktionen werden 75 Prozent der Unternehmen von Bürokratie und KGB kontrolliert. Quelle der Korruption ist selbstredend der Staat - nur mangelhaft verdeckt von neuerlichem Großmachtgehabe! Wer Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kreml wie seinerzeit Michail Chodorkowskij verweigert, landet im Gefängnis.
Die russischen Soziologen Gudkow und Zaslavsjky gehen in ihrer Kritik der aktuellen russischen Staatsmacht nicht so weit, Politik als das Instrument zu verstehen, mittels dessen Russlands Regierende die Bevölkerung zum Dienstpersonal des Kreml degradieren; dass die Eliten des Landes aber nicht imstande sind, sinnvolle Demokratiekonzepte zu entwickeln, ist ein Faktum. Stattdessen wurden die Massenmedien vollständig an die Kandare genommen; stattdessen herrscht in Putins Rohstoffimperium Xenophobie im höchsten Ausmaß. Noch immer lautet also die zentrale russische Frage: "Was tun?" Der Befund dazu ist ernüchternd:
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Jeglicher Ideologie und jeglichen traditionellen religiösen, ethnischen und regionalen Zusammenhaltes beraubt, sind die Menschen unfähig, sich unabhängig von der politischen Macht oder gegen sie zu organisieren.
Vormachtstellung angestrebt
Langfristige Perspektiven eröffnen sich laut Gudkow und Zaslavsky für Russland, das sie grundsätzlich als "normales europäisches Land" sehen, durch globale Integration: Wenn Russlands Wirtschaft wachse, werde es allmählich in den Kreis der liberaldemokratischen Industriestaaten aufsteigen; dann könnten auch innerrussische Modernisierungskräfte eine demokratische Entwicklung in Gang setzen.
Die kurzfristigen Prognosen der beiden Autoren für das sich abzeichnende Putin-Langzeitregime bis 2025 schauen hingegen höchst düster aus:
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Die Gefahr eines vollständigen Kollapses wächst in jeder neuen Krisensituation, ob es sich um eine Wirtschaftskrise, um ein technisches Desaster oder um sozialen Protest handelt.
Wenig tröstlich auch der außenpolitische Befund, seitdem Russland krampfhaft wieder die Vormachtstellung der einstigen UdSSR in ihrem Einflussbereich einnehmen will: Das zeigte sich im Fall des innerrussischen Kriegs in Tschetschenien; im Verhältnis zu den unabhängigen baltischen Staaten, zur Ukraine, oder zuletzt 2008 im Krieg mit Georgien. Wenig erfreulich ist für die beiden russischen Autoren dabei auch die Haltung des Westens.
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Wie vor zwanzig Jahren beziehen die wichtigsten westlichen Staaten gegenüber Russland keine klare und einheitliche Position.
Wer stattdessen verstehen will, was im eurasischen Giganten Russland vor sich geht, sollte das Buch von Lev Gudkow und Victor Zaslaysky lesen: egal ob es je ein Europa von Lissabon bis zum Ural oder bis Wladiwostok geben wird, ohne Russland wird auch Europa nicht imstande sein, seine Identität zu bestimmen. Und man kann Russland sehr wohl mit dem Verstand verstehen.
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Lev Gudkov, Victor Zaslavsky, "Russland. Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?", aus dem Italienischen übersetzt von Rita Seuß, Verlag Klaus Wagenbach
Verlag Wagenbach - Russland