Zweifel am "Wirtschaftswunder"
Lira-Talfahrt beunruhigt die Türken
Die türkische Lira hat seit Jahresanfang gegenüber dem Euro ein Viertel ihres Werts verloren. Zumindest für Türkei-Urlauber eine gute Nachricht, sollte man meinen - aber nicht ganz. Denn eine anhaltend hohe Inflation macht auch die kleinen Kursgewinne der Touristen zunichte.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 20.08.2011
Schlechte Erfahrungen
Wechselkurse werden in der Türkei sehr genau verfolgt, fast so genau wie Fußballspiele. Zu frisch ist die Erinnerung an den großen Crash von 2001, als der Wert der türkischen Lira binnen weniger Stunden ins Bodenlose stürzte, Millionen an Sparguthaben vernichtet wurden und Tausende ihre Jobs verloren. Kein Wunder also, dass viele beunruhigt sind, wenn die türkische Währung jeden Tag schwächer wird. Zu Unrecht, sagt Professor Kerem Alkin, der einen Wirtschaftskanal im türkischen Fernsehen leitet: "Es ist für uns nicht leicht, die schwierigen Zeiten, durch welche die türkische Wirtschaft gegangen ist, zu vergessen. Aber wir bemühen uns Tag für Tag, den Leuten klar zu machen, dass wir nicht mehr im selben Land leben wie vor 10 oder 15 Jahren."
Zweifel am Wirtschaftswunder
Dieser Optimismus passt gut zur Linie der türkischen Regierung. Auch wenn die Inflation steigt und die Handelsbilanz der Türkei immer schlechter wird, auch wenn einige westliche Investoren sich aus der Istanbuler Börse zurückgezogen haben, so sei das alles noch kein Grund, am türkischen Wirtschaftswunder zu zweifeln, sagt Regierungschef Erdogan.
Tatsächlich steht das Land in vieler Hinsicht besser da als vor zehn Jahren. Es wird produziert und gebaut, und es wird weiterhin viel konsumiert. Denn der Nachholbedarf an Wohnungen und Gebrauchsgütern ist nahezu grenzenlos. Die Schattenseite: Die meisten hochwertigen Produkte müssen eingeführt werden.
eBooks für Schüler
Türkische Firmen exportieren zwar mehr und mehr Fertigprodukte, doch nur wenig davon im Bereich der Hochtechnologie. Auch das will Erdogans AKP bald ändern. Vor den Wahlen wurde eine große Bildungsoffensive angekündigt. Bis zum Jahr 2023 soll die Türkei, koste es was es wolle, in die Reihe der Hochtechnologieländer katapultiert werden. Ein erster Schritt dazu ist das so genannte Projekt "Fatih": "Wir sind dabei, an jeden Schüler in der Grundschule wie in der Höheren Schule gratis iPads zu verteilen. Und wir werden jede nur mögliche Art von Hochtechnologie in unsere Schulen bringen." Die elektronischen Bücher, wie sie hier genannt werden, sollen von einer türkischen Firma hergestellt werden.
Jobchancen kaum gebessert
Aber auch die geplante lückenlose Anbindung aller Schulen und aller Haushalte ans Internet wird die Kluft zwischen Gebildeten und Analphabeten nicht so schnell schließen können. Viele türkische Frauen haben weiterhin keine Chance, einen Beruf zu ergreifen. Und in den Städten drängen sich viele schlecht ausgebildete junge Männer um schlecht bezahlte Jobs.
Kein Vergleich mit den Problemen, die zur Zeit manche Länder der Euro-Zone durchmachen, trösten türkische Kommentatoren ihre Leser. Doppelt bitter allerdings, dass ausgerechnet der Euro jeden Tag gegen die Lira gewinnt. Ein unfaires Match, finden viele. Denn obwohl die Türkei der EU ihre Märkte geöffnet hat, kommt aus Brüssel eine Abfuhr nach der anderen.