Gregor Hens über seine Zigarettensucht
Nikotin
Weit über 100.000 Zigaretten habe er in seinem Leben geraucht, stellt Gregor Hens fest, und jede einzelne habe ihre besondere Bedeutung gehabt. - Schlicht "Nikotin" nennt sich denn auch das neue Buch des deutschen Autors.
8. April 2017, 21:58
Gregor Hens unternimmt darin eine Expedition in die inneren Welten seiner Sucht, seiner Abhängigkeit vom Nikotin. Derzeit raucht er nicht, schreibt er, und er hat fest vor, dass dem so bleibt. Aber Hens machte sich für seine Nikotin-Entwöhnung auch wissenschaftlich kundig, las sich in die aktuellen Forschungs-Ergebnisse ein, und so weiß er etwa: Nur ungefähr zehn Prozent beträgt, statistisch erhoben, die Wahrscheinlichkeit, dass ein ehemals Süchtiger dauerhaft "clean" bleibt, er also tatsächlich den Rest seines Lebens ohne seine Droge zubringt. So ist dem Nikotin-Junkie durchaus klar, dass seine Chancen, dauerhaft ohne Zigaretten zu leben, aus wissenschaftlicher Sicht, nicht eben gut stehen.
Wissenschaftliche Fakten
Die genannte Größenordnug gilt übrigens für alle psychoaktiven, suchtbildenden Substanzen, vulgo Drogen. Für Nikotin, für Alkohol, für Heroin und Kokain oder wie sie alle heißen, und ebenso für alle möglichen medizinischen Psychopharmaka. Sucht funktioniert immer ähnlich, eher unabhängig von der konkreten Droge. Auch das weiß Gregor Hens, und er kennt den Grund: Jede Sucht hinterlässt im Zentralnervensystem, im Gehirn des Abhängigen spezifische, nahezu irreversible Strukturen.
"Nahezu" bedeutet hier: Die Muster in der Verschaltung des Nervensystem bilden sich grundsätzlich wohl zurück. Dieser Prozess ist aber nicht in Wochen oder Monate zu messen, wie die unmittelbare Entwöhnung, sondern in Jahrzehnten. So verfallen ehemals Süchtige schon nach einem kurzen Rückfall, nach ein paar Probezigaretten - oder Probegläsern -, viel schneller wieder ihrer "Leidenschaft", als jemand, der nie süchtig war. Und das auch noch Jahre später.
Gregor Hens hat diese wissenschaftlichen Erkenntnisse - und noch einige mehr - für seine Nikotin-Entwöhnung - und so auch für das Buch, das er darüber geschrieben hat - recherchiert und studiert. Er weiß genau, wie Sucht funktioniert, welche Fallen sie dem Betroffenen stellt. Für seinen Text ist das Hintergrundwissen, das er laufend und sehr gekonnt mit seiner persönlichen Sucht-Geschichte verbindet und verschneidet.
Ein Leben, begleitet von Zigaretten
Da die Abhängigkeit das gesamte Leben des Süchtigen in jedem Detail formt und beherrscht - darüber darf man sich keine Illusionen machen, auch das weiß Hens - wurde sein Buch zwangsläufig zu einem über sein Leben: über seine Kindheit und Jugend in einem akademisch-bürgerlichen, deutschen Elternhaus - beide Eltern starke Raucher -, über seine Schulzeit in einem katholischen Internat, über die ersten, zaghaften Versuche mit dem Sex - eine gewisse Eliane war das Objekt der noch etwas desorientierten jungmännlichen Wünsche -, über seine Wanderjahre, und schließlich über seine nunmehrige Existenz als Lehrer an einer amerikanischen Universität.
Über all dem, darunter, daneben, links, rechts steht immer das Nikotin, die Zigaretten, die dabei unentwegt geraucht werden. Ob zur Entspannung, als Pausenfüller, aus Langeweile, oder aber um Aufmerksamkeit und Konzentration zu steigern, ob aus Trauer oder aus Freude, aus Niedergeschlagenheit oder aus Euphrorie - jedes Ereignis, jede Stimmung, jeder Vorfall gibt dem Raucher den dringenden Anlass, eine zu rauchen.
Spott für alles und jeden
So quasi nebenher wird diese Autobiografie in Zigarettenpackungen auch noch zu einem aufmerksamen Text über die Ära, in der der Autor lebt.
Gregor Hens, geboren 1965, kam für die 68er, für die wilde Zeit der Jugend- und Studentenrevolte und auch für ihre abebbenden Nachwirkungen klar zu spät. Seine Sozialisation fällt in jene Zwischenära, als die Aufbruchsstimmung, die Lässigkeit, der etwas naive "Wir machen die Welt besser"-Optimismus der 1960er und 1970er eindeutig passé waren, andererseits der neoliberale Kampf-Individualismus mit seinen - nunmehr - strikt materiellen Status-Symbolen und die daraus zwangsläufig resultierende "Zwei-Drittel-Gesellschaft" noch nicht so richtig in die Gänge gekommen waren.
Hens' rauchgeschwängerte Biografie eines jungen Mannes wird so ein wenig auch zu einem kleinen, skizzenhaften Panorama eben dieser Ära. Gregor Hens gehört, so könnte man sagen, der planlosen Generation an. Ihr Hauptmerkmal besteht vielleicht darin, dass sie sich über alles lustig macht: über die Gutmenschen ebenso wie über die Schlechtmenschen, über Umweltschützer ebenso wie über Baummörder, über politische Aktivisten genau so wie über unpolitische Karrieristen, über Tugend und Moral gerade so wie über Untugend und Unmoral.
Anders gesagt: Das "Anything goes", das vielleicht als Leitspruch über den 1980ern und frühen 1990ern stand, bedeutet auch, dass man nichts mehr ernst nimmt.
Genaue Beobachtungsgabe
So unterzieht sich der autobiografische Protagonist etwa brav einer Psychotherapie, um seine Nikotin-Abstinenz zu festigen, wie er sagt, hält davon aber, wie er auch sagt, gar nichts. Er lästert über militante Anti-Raucher, die im Sinne eines allgemeinen Gesundheitsschutzes allerorts das Rauchen verbieten, gerade so aber über die Raucher, die die Welt verstinken.
Mit genauer Bobachtungsgabe, in vielen farbenreichen Details und mit feiner Ironie beschreibt Gregor Hens dieses Lebensgefühl, wonach nichts wahr oder authentisch oder gut oder schön ist, sich immer der kleine Haken findet, an dem der Spott ansetzen kann. So ist sein Band neben einem kleinen Ratgeber für angehende Nichtraucher - der er auch ist - zusätzlich zu einem durchaus amüsanten Lesestoff geraten.
service
Gregor Hens, "Nikotin", S. Fischer Verlag
S. Fischer - Nikotin