Neue Bücher zu alten Geschichten
Nordische Helden- und Göttersagen
Als interessierter Leser mit großem Horizont mögen einem in Sachen isländischer Literatur Autoren wie Gunnar Gunnardson oder Einar Kárason in den Sinn kommen. Doch weit verbreiteter ist das Wissen um die mittelalterliche Literatur Islands.
27. April 2017, 15:40
Die "Edda", jene Sammlung von Götter- und Heldenliedern, ist auch bei uns durch die inhaltlichen Bezüge zum Nibelungen-Stoff bekannt. Es gibt zwei Varianten: Die "Lieder-Edda", das ist eine Sammlung von Dichtungen unbekannter Autoren, die um 1270 niedergeschrieben wurde. Zur Buchmesse mit dem Island-Schwerpunkt hat Arnulf Krause die "Lieder-Edda" in Prosaform neu übersetzt und kommentiert: "Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda" lautet der Titel des Buchs, das im Reclam Verlag erschienen ist.
Aus mündlicher Überlieferung
Die "Prosa-Edda" stammt hingegen aus der Feder des Dichters Snorri Sturluson, aus der Überlieferung zusammengestellt, eigenständig weiter gearbeitet und publiziert hat er sie um 1220. Lange meinte man, die "Lieder-Edda" sei von der mündlichen Überlieferung her älter als die "Prosa-Edda"; daher ist sie auch bekannter, wird in den Geschichtsbüchern hervorgehoben, doch Snorri Sturluson bezieht sich in seiner Textsammlung auf die gleichen Quellen mündlicher Überlieferung.
So gewinnt seine "Prosa-Edda", die nun im Manesse Verlag erschienen ist, heute an Bedeutung, und das aus zwei Gründen: Erstens hat man einen historisch verbürgten Dichter, anhand dessen Lebens sich die Autor-Intentionen für die Niederschrift nachzeichnen lassen. Snorri Sturluson entstammte einem bekannten isländischen Geschlecht. Er erhielt für die damalige Zeit eine erstaunlich umfassende Bildung. Doch sein Interesse galt nicht allein der Kultur und Literatur, sondern er bekleidete auch hohe politische Ämter. Das Verfassen der "Prosa-Edda" hat daher durchaus kulturpolitische Intentionen: Rund zweihundert Jahre nach der Christianisierung Islands versuchte Snorri die Götter, Geister und Dämonen der nordischen Mythologie in seiner "Edda" Präsenz zu geben.
Snorri selbst war Christ, aber er hatte wohl die berechtigte Befürchtung, dass durch das Christentum die mythologischen Wurzeln und damit ein Stück Selbstidentität Islands verloren gingen. Deshalb hielt er die mündlich überlieferten Sagen und Lieder in Schrift fest. Aber Snorri wollte noch mehr: Er lieferte in seiner "Edda" auch eine praxisnahe Poetik für die "Skalden" - so der Name der höfischen Dichter im skandinavischen Raum.
Fragen zu Göttern und der Welt
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"Steh du vorne, während du fragst; / sitzen soll, der dir Rede steht."
Mit diesem Frage-Antwort-Spiel beginnt die "Prosa-Edda". König Gylfi von Schweden ist ein durchaus kluger Herrscher. Er ist aber auch ein sehr neugieriger Mann. Als er erfährt, wie man zu den Asen, also zu den Göttern gelangt, bricht er auf. Um aber nicht erkannt zu werden, nennt der König sich "Gangleri", "Landfahrer". Er kommt zu einer mächtigen Burg, wo ihm drei gottähnliche Wesen erwarten: "Hoch", "Gleichhoch" und "Der Dritte". Und ihnen stellt er seine Fragen über Gott und die Welt.
Gleich zu Anfang, als es darum geht zu erfahren, wer der höchste Gott sei, kommt es bei Snorri zu einer Vermischung von nordisch-heidnischer Mythologie und christlicher Glaubenslehre: Derjenige Gott, der "in Ewigkeit herrscht", ist der Göttervater Odin und Gott-Vater in einem. Und die "Hel" ist bei Snorri heidnisches Totenreich und christliche Hölle in einem.
Die drei gottähnlichen Wesen erzählen nun König Gylfi wie Himmel, Erde und die Menschen entstanden sind, wie die Rangordnung unter den Göttern aussieht. Skadi ist eine der Göttinnen und sie kann etwas ganz Besonderes:
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Und sie läuft Ski, mit Pfeil und Bogen, und jagt Tiere. Sie heißt auch Schneeschuh-Göttin.
Da hätte man sich an dieser Stelle eine Anmerkung von Arthur Häny gewünscht, dem an sich klugen und genauen Übersetzer der "Prosa-Edda". Denn, wenn eine Göttin der nordischen Mythologie die Erfinderin des Skilaufs ist, dann können Norwegen, Österreich und Bayern als angebliche Ursprungsregionen des Skisports einpacken!
Parallelen zu Nibelungen
Den zweiten Teil seiner "Prosa-Edda" nennt Snorri "Sprache der Dichtkunst". Doch hier geht es weit weniger dichtungstheoretisch zu als der Titel vermuten lässt. Da wird erzählt, wie Odin durch List das "Dichtermet" erlangt, wie Thor sich mit Trollen und Riesen herumschlägt und der listige Loki göttlichen Schabernack treibt.
Wichtig ist, dass in diesem Teil auf den Nibelungen-Stoff Bezug genommen wird. "Sigurd" ist Siegfried, "Gunnar" ist Gunther, "Brynhild" ist Brünhild, allein "Gudrun" ist allerdings Krimhild. Wie im Nibelungenlied geht es um den Schatz, um die Täuschung Brünhilds, um die Ermordung Siegfrieds und schließlich um den Untergang der Nibelungen. Somit ist Snorris "Prosa-Edda" dreifach bedeutsam: Er liefert einen literarischen Abriss der nordischen Mythologie, wobei die einzelnen Heldentaten der Götter durchaus amüsant zu lesen sind. Er schildert die Phase der Christianisierung Islands, wobei die alten Götter, Geister, Riesen und Dämonen noch sehr lebendig sind. Diese Mixtur ist wiederum mit ein Verbindungsglied zum Nibelungenlied, also zum ersten großen Heldenepos in deutscher Sprache. Und Snorri nennt noch einen Bezugspunkt: "Die Troja-Fabel". Die nordische Sage der "Götterdämmerung", der alle alten Götter zum Opfer fallen, wird gleichgesetzt mit dem Untergang Trojas. Somit ist Snorri Sturlusons "Prosa-Edda" wahrlich Welt-Literatur!
Die "Isländersagas"
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Ein Mann hieß Odd und wurde Sindri genannt. Er war wohlhabend und unverträglich im Umgang. Odd war verheiratet und hatte einen Sohn, der Osvíf hieß. Es wurde erzählt, dass der rücksichtslose Osvíf seinem Namen alle Ehre machte. Er war ein Kaufmann und neigte dazu, sich aufzuspielen, war aber ein Laie, spöttisch und prahlerisch.
Weniger von göttlichem Eigensinn, sondern mehr von menschlichen Verfehlungen, negativen Eigenschaften, Rachsucht, Tod und Liebe erzählen die "Isländersagas". Sie beschreiben einen Zeitraum vom letzten Drittel des 9. Jahrhunderts bis in die ersten Jahrzehnte des 11. Jahrhunderts. In Schrift festgehalten wurde keine der Geschichten allerdings vor 1200. Der S. Fischer Verlag hat nun das Mammutunternehmen gewagt, in vier Bänden und einem Erläuterungsband diese Sagas auf rund 3.300 Seiten in Neuübersetzung herauszugeben.
Im Lesen dieser Sagas taucht man ein in das Alltagsleben der frühmittelalterlichen Gesellschaft Islands – mit ihren Nöten, das Gemeinwesen zu strukturieren, mit ihren Ängsten, dass eigensinnige Sippen oder gar einzelne starke Recken dieses Gemeinwesen zerstören könnten. Und wie in Snorri Sturlusons "Prosa-Edda" wird auch etwas anderes ersichtlich: Die Menschen dieser längst vergangenen Zeit rufen noch ihre alten heidnischen Götter an, während das Christentum sich langsam, aber stetig durchsetzt. Wie soll man es anders sagen? – Mit Snorri Sturlusons "Prosa-Edda ", den "Isländersagas" und den "Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda" hat man so viel sagenhafte Weltliteratur zur Hand, dass die kalten, islandgleichen Wintertage, die da kommen werden, ausgefüllt sind.
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Snorri Sturluson, "Prosa-Edda. Altisländische Göttergeschichten", Manesse Verlag
"Isländersagas", 5 Bände, S. Fischer Verlag